Die vernarbte Stadt

Eine Annäherung an Stettin

Kaum liegt Deutschland hinter mir, bin ich auch schon an der Stadtgrenze von Stettin angelangt. Es ist ein sonniger Sonntagnachmittag, viele Radfahrer auf den Wegen rechts und links der Straße, ein Festplatz, auf dem ein Konzert stattfindet, Familien auf dem Weg dorthin. Die Straßen sind gut ausgebaut und breit, der Verkehr läuft entspannt, kein Problem, mich durch die Großstadt zu schlängeln. Die Straße verläuft durch einen Park, auf der großen Grünfläche haben sich die Menschen niedergelassen, Kinder toben herum, am Ende des Parks ein schlossähnliches grünes Gebäude. Ein paar Minuten später biege ich in die Straße ein, in der sich meine Wohnung für die nächste Woche befindet. Eine lange Häuserzeile, in deren Inneren man sich verirren kann. Ich wohne im dritten Stock und aus den Fenstern habe ich einen weiten Blick über die Stadt. Die Lage der Wohnung war als hervorragend angepriesen worden. Wo mag dann das Zentrum sein? 

Blick von der Jerzego Janosika, Stadtteil Śródmieście-Północ, Richtung Hafen

Mein erster Erkundungsspaziergang führt mich in Richtung des grünen Schlosses, das ich vom Auto aus gesehen habe. Aber es ist kein Schloss, ein Schild weist es als Sitz der Stadtverwaltung aus. Richtig so, immer die schönsten Gebäude für die Administration 🙂

Stadtverwaltung am Ende Aleja Papieza Papieża Jana Pawła II.

Der kleine Supermarkt um die Ecke hat geöffnet. Das ist so angenehm in Polen, immer ein Żabka oder ähnliches in der Nähe, in dem man sich zu jeder Zeit mit allem Notwendigen versorgen kann. Ich kehre mit Milch für’s Frühstück, einem Sandwich und einem Bier zurück in meine Wohnung. Wo ich jetzt genau bin in der Stadt, habe ich noch nicht herausgefunden. Aber morgen geht’s los!

Doch auch in den nächsten Tagen werde ich nicht fündig. Die Stadt hat kein Zentrum. Nicht mehr. Eine winzige Altstadt mit ein paar Restaurants. Grandiose Plätze, wie der Plac Grunwaldzki, gesäumt von Bürgerhäusern. Trutzige Prachtbauten rund um die Hakenterrasse am Ufer der Oder. Ein Stadtstrand gegenüber mit Panoramablick. Uralte Backsteinkirchen. Ein Hafenviertel, das sich gerade aufschwingt, cool zu werden. Einkaufszentren. Aber nichts, was einem Stadtkern nahe kommt.

Die Jakobskathedrale in Stettin

Wahrscheinlich ist es der Fluch der boulevardähnlich angelegten Straßen. Der Verkehr scheint die Stadt in ihrer Mitte zu zerschneiden. Und wie in vielen Städten des früheren Sozialismus: Wohnblocks im Herzen der Stadt. Ungewohnt für das westlich geprägte Auge, das an dieser Stelle mit Bürohochhäusern oder Einkaufszentren rechnet. Aber vielleicht ist ja gerade diese Wohnbebauung das Rezept gegen das Aussterben der Innenstädte. 

Wie verloren im tosenden Verkehr ein einsamer Rest Barock, der so gar nicht zur Bebauung drumherum passen will. Das „Berliner Tor“ war einst eines der Stadttore von Stettin. Trotzig behauptet es seinen Platz und schaut auf die massiven roten Backsteinkirchen, die sein Schicksal teilen. Alles wirkt zusammengestückelt. Als hätte ein Kind seine kaputtgegangene Ritterburg mit Legosteinen geflickt. Gotik neben Plattenbau, filigran dekorierte Bürgerhäuser neben grobschlächtigem Beton.

Die Oder trennte immer schon Vor- von Hinterpommern. Das deutsche Stettin war einst die Hauptstadt von ganz Pommern. Heute ist Szczecin die Hauptstadt der Woiwodschaft Westpommern und liegt in Polen. Der „Pommersche Greif“ ist immer noch allgegenwärtig, sei es auf den alten Gebäuden aus deutscher Zeit oder auf modernen Taxis und Straßenbahnen. Auch die historischen blauen Wasserpumpen, die überall in der Stadt zu finden sind, ziert das Wappentier Pommerns.

Die Altstadt von Stettin wurde im Zweiten Weltkrieg zum größten Teil zerstört. Die deutsche Bevölkerung wurde vertrieben, es rückten ihrerseits Vertriebene nach: Menschen aus den östlichen Teilen des damaligen Polen. Gebiete, die der Sowjetunion einverleibt worden waren. Sie kamen ohne zu wissen, ob sie in Stettin eine dauerhafte Heimat finden würden. Zunächst bestand Unklarheit über die Zugehörigkeit der größtenteils westlich der Oder liegenden Stadt. Dazu drängten 30.000 Holocaust-Überlebende nach Stettin, die schnell nur noch eines wollten: weg hier, weiter nach Palästina oder bald Israel. In den Ruinen und unter dem Damoklesschwert der Vorläufigkeit mussten sich die Menschen eine neue Heimat schaffen, eine neue Gemeinschaft. Die Ausstellung im Dialogzentrum Umbrüche beginnt mit einem Panoramabild des zerstörten Stettin, voller verzweifelter Menschen. Auf dem Boden davor der Schriftzug „Genesis“. Der Bezug passt perfekt. Aus Ödnis und Chaos musste ein neuer Lebensraum, eine neue Gesellschaft entstehen.

Ich fremdle anfänglich stark mit der Stadt. Ihre Identität ist nicht leicht zu erkunden. Was mir hilft ist, mich einfach durch die Straßen treiben zu lassen. Alles zu Fuß erkunden, ausgiebig die Fassaden der Häuser betrachten, in den vielen Grünanlagen auf eine Bank setzen und die Menschen beobachten. Anfangs war ich fast ein wenig enttäuscht, nicht näher an der Altstadt zu wohnen. Aber was hätte ich da eigentlich gewollt? Mein Viertel ist eine ganz normale Wohngegend, gegenüber ein gedeckter Markt mit dem Duft von Erdbeeren und üppigen Sträußen Dill. Das Eintauchen in den polnischen Alltag und das viele Laufen sind der beste Weg, diese Stadt zu erkunden.

Die Stimmung ist gelassen, viele junge Menschen. Über 50.000 Studierende hat Stettin, aber die scheinen wirklich fleißig am Studieren zu sein, denn gemütliche Cafés oder ungewöhnliche Restaurants finde ich so gut wie keine. Dafür bekomme ich in einer Metzgerei ein wirklich traumhaftes Bigos, das polnische Nationalgericht aus Kraut, Fleisch und Wurst für gerade mal drei Euro. In einem der vielen ukrainischen Restaurants der Stadt gibt es Wareniki – Teigtaschen – mit einer Füllung aus Wild und Pilzen, obendrauf ein Riesenklecks saurer Sahne. Und mit dem Café Dzien Dobry finde ich dann doch noch einen Ort, an dem man lesend im Sessel versinken kann.

Die wichtigsten offiziellen Sehenswürdigkeiten sind schnell abgeklappert – die schon erwähnte Mini-Altstadt, das Schloss der pommerschen Herzöge, die Hakenterrasse. Natürlich gibt es noch vieles mehr. Folgt man dem sehr praktisch auf dem Bürgersteig rot markierten Weg, kann man kaum etwas verpassen. Wenn möglich, sollte man auch mal reingehen in die Gebäude, zum Beispiel im roten Rathaus, der Post oder der Musikhochschule warten hübsche Überraschungen. 

Hakenterrasse mit Woiwodschaftsgebäude, Rotes Rathaus, Schloss der pommerschen Herzöge, Heumarkt
links: im Postgebäude, rechts oben: im roten Rathaus, rechts unten: Akademia Sztuki w Szczecinie, Aleja Niepodległości 40

Was man auf keinen Fall auslassen sollte, ist das Dialogzentrum Umbrüche – es hilft, die jüngste Geschichte der Stadt zu verstehen. Sie ist zugleich auch eine Geschichte Polens zwischen 1939 und 1989. Die Nazizeit, die Aufstände, Solidarność, der polnische Papst, Kriegsrecht, die Dritte Polnische Republik.

Sehr beeindruckt hat mich ein Besuch in den Bunkeranlagen unter dem Hauptbahnhof, die 5000 Menschen Schutz bieten konnten. Die Anlage befindet sich weitgehend im Originalzustand, die nachgestellten Szenen schaffen eine beklemmende Atmosphäre, zumal ich hier unten fast alleine bin.

Und ein ganz besonderer Ort ist das Lapidarium auf dem Hauptfriedhof. Restaurierte deutsche Grabsteine wurden hier neu platziert. Sicherlich in erster Linie nach ästhetischen Kriterien. Aber manche Grabsteine scheinen freundliche Grüppchen zu bilden. Wie zu einem Kaffeekränzchen vereint stehen sich sechs Grabsteine gegenüber, im Halbkreis angeordnet scheint der Stein von „Vedder“ seinen Untergebenen die Befehle des Tages mitteilen zu wollen. Ein verwunschener Ort.

Hauptfriedhof und Lapidarium Stettin

Sehr entspannt im hier und jetzt geht es am Stadtstrand auf der Oderinsel Wyspa Grodzka zu. Auf 1500 Tonnen feinstem Ostseesand kann man wahlweise im Liegestuhl oder auf dem Strandtuch das wuchtige Panorama der Hakenterrasse gegenüber auf sich wirken lassen. 

Ein sehr schöner Ort, den sonnigen Nachmittag mit einem leckeren Eis auf einer Parkbank zu genießen, ist der Kasprowicza-Park vor dem grünen Haus der Stadtverwaltung, das ich ja schon am ersten Abend fand. Spinatpalast nannte man es früher und seit das Grün das zwischenzeitlich sozialistische Grau wieder vertrieben hat, könnte man diesen Namen ruhig erneut aufleben lassen.

Nach einer Woche bin ich ein bisschen mehr angekommen in der Stadt. Sich hier auf die Spuren der Vergangenheit zu beschränken, bedeutet, sich auf das Verlorene zu konzentrieren. Mit diesem Fokus, in dem wir Ahnenforscher uns gerne mal verlieren, wird die Stadt wahrscheinlich immer verletzt erscheinen. Wie amputiert und mit schlecht sitzenden Prothesen bestückt. Doch Stettin ist geheilt, zwar mit deutlichen Narben, aber aus Stettin ist Szczecin geworden, eine moderne und lebensfrohe polnische Stadt. Vielleicht ist das Stettins Identität und Mission: einen möglichst angenehmen Rahmen für ein ganz normales polnisches Leben zu bilden. Sich dabei behutsam auch der deutschen Geschichte der Stadt zu nähern. Diese zu integrieren, nachdem die menschlichen und städtebaulichen Wunden der vergangenen 60 Jahre langsam vernarben. Stettin eben als polnische Heimat mit vielfältiger Geschichte zu begreifen.

Am Hafen

Ich bin froh, dass ich mir Zeit gelassen habe für die Stadt. Nach ein oder zwei Tagen wäre ich einigermaßen ratlos weitergefahren und wahrscheinlich nicht mehr zurückgekehrt. Stettin erschließt sich erst auf den zweiten Blick, und so ergreift mich sogar etwas Wehmut, als ich über die Oder-Brücke Richtung Osten fahre und Szczecin hinter mir zurücklasse.

Inseltraum in der Ostsee

Ich habe eine gewisse Abneigung gegen die beliebten Urlaubsorte der Deutschen. Gran Canaria, Djerba in Tunesien, die ein oder andere thailändische Insel  – ich hab mich da nicht wohlgefühlt. Große Hotel- oder gar Clubanlagen schrecken mich ab, im Urlaub will ich nicht überwiegend deutsch hören, an europäische Geschmäcker angepasstes Essen verzehren und das Land nur durch die Scheiben eines Tourbusses betrachten. Mit „Fun-Aktivitäten“ kann man mich jagen. Genug geschimpft, natürlich akzeptiere ich, dass das anderen Spaß macht. Und zum Glück sind die Geschmäcker verschieden.

Dass ich mich nach der Vorrede auf Deutschlands beliebteste Ferieninsel getraut habe, wundert mich jetzt eigentlich selber. Aber vielleicht hatte ich ja eine Ahnung –  denn Rügen ist absolut grandios! Also, liebe deutsche Mitbürgerinnen und Mitbürger – Ihr habt doch Geschmack 🙂

Vollkommen ahnungslos, wo man sich auf der großen Insel am besten stationiert, habe ich ein Apartment im Südosten gebucht. Der winzige Ort Wreechen liegt am gleichnamigen See und nicht weit vom Meer entfernt. Im „Wreecher Idyll“ ist der Name Programm – von meinem Balkon aus habe ich den schönsten und eben idyllischsten Blick, den ich mir vorstellen kann. Weite sattgrüne Landschaft, der schilfgesäumte See. Die sanfte Luft mit einer Spur Seetangaroma. Rehe, die abends vor meinem Balkon durch die Wiese springen. Und über allem: Stille.

Am Abend der erste Spaziergang, einfach los in den Wald hinein. Hasen hoppeln vor mir auf dem Weg, alte reetgedeckte Häuser ducken sich in die Landschaft, Mohn- und Kornblumen säumen die Felder. Und dann stehe ich an der Küste, blicke hinüber zur kleinen Insel Vilm und genieße das Licht kurz vor Sonnenuntergang. Muss ich noch mehr schwärmen?

Prora

Am nächsten Tag fahre ich Richtung Norden. Die Straßen sind schmal und gesäumt von Bäumen, deren Wipfel sich zu einem grünen Dach vereinen. Hier verläuft die „Deutsche Alleenstraße“ und die trägt ihren Namen auf Rügen vollkommen zurecht. Nach etwa einer halben Stunde erreiche ich Prora. Die Nazis wählten die schönste Bucht der Insel für den Bau des „Kraft durch Freude-Seebad Rügen“. 20.000 Menschen sollten hier ihre Nerven für Krieg und Vernichtung stählen, riesige KdF-Schiffe am Ufer anlegen. Zum Nazi-Urlaub-Einsatz kam der Koloss nie. Das DDR-Regime versuchte sich mit Urlaubern und Bausoldaten an dem gigantischen Bau. Der Bund verkaufte große Teile der Anlage, Spekulanten traten auf den Plan und jetzt entstehen hier Luxusapartments. Alles als Denkmal zu erhalten wäre wohl auch komisch gewesen, aber ein bisschen origineller hätte man schon vorgehen können. Die riesigen Ausmaße der Anlage lassen sich eigentlich nur aus der Luft richtig erfassen, zumal die Gebäude vom Strand aus meist hinter einem Waldstreifen verschwinden. Nicht nur deswegen ist die Ausstellung im Dokumentationszentrum Prora „MACHTUrlaub“ unbedingt sehenswert.

Nationalpark Jasmund

Jetzt aber mehr von der Schönheit Rügens. Der Nationalpark Jasmund im Nordosten beherbergt die berühmten Kalksteinfelsen und mit seinem Buchenwald auch ein Unesco-Welterbe. Am Parkplatz wirkt alles noch unspektakulär. Der Weg durch den Wald bis zum Besucherzentrum ist schön, aber nicht unbedingt einsam. Das Zentrum ist umlagert und verlangt 10 Euro Eintritt. Mir ist nicht ganz klar, wofür und so nehme ich den Weg rechts neben dem Zentrum in den Wald hinein. Schnell bin ich fast allein in dem ungewöhnlichen Wald. Die schlanken hohen Stämme lassen mehr Licht hinein als man erwarten würde und in der Ferne schimmert immer wieder das Blau des Meeres durch. Der Wald reicht direkt bis an die Klippe heran. Der Kreidefels ist weich und schützt die Bäume direkt am Rand nicht vor gelegentlichen Abstürzen. Nach etwa fünf Kilometern ist ein Abstieg zum Strand möglich. Eine Holztreppe führt hinunter zum Kieler Ufer und diesen Abstieg sollte man auf keinen Fall scheuen. Der Blick auf die Kreidefelsen ist jede Stufe hinab wie hinauf wert.

Genau den gleichen Weg zurück will ich nicht gehen, ich habe guten Empfang, also lasse ich mich von Google über kleine Pfade lenken. Irgendwann wird das Signal immer schlechter, Julia allein im großen Wald, kurz wird’s mir etwas mulmig, aber dann taucht ein Forstweg auf. Sehr glücklich und zufrieden erreiche ich am Nachmittag den Parkplatz und bin ab sofort Rügen-Fan.

Lauterbach und Goor

Nur vier Nächte habe ich für die Insel eingeplant, denn es ist Pfingsten und ich muss ja nicht unbedingt dann fahren wenn alle fahren. Samstag ist mein letzter Tag und heute möchte ich in der Nähe bleiben. Also marschiere ich vorbei an reizenden Reetdachhäusern zum Meer und immer an der Küste entlang bis zum kleinen Hafen Lauterbach. Eine entspannte Atmosphäre, man bekommt Räucherfisch vom Kutter und DDR-Softeis, kleine Boote schaukeln auf dem Meer und es sitzt sich gut in der Sonne.

Weiter am Ufer entlang kommt man nach Goor, einem Waldgebiet mit  neoklassizistischem Badehaus. Das Restaurant mit eleganter Terrasse öffnet gerade, also ergattere ich einen Strandkorb, bestelle Kaffee und fühle mich ein wenig wie ein mondäner Badegast im 19. Jahrhundert. Ich habe es nicht nach Binz geschafft, um mir die Bäderarchitektur, für die Rügen auch berühmt ist, anzuschauen. Aber das Badehaus Goor scheint mir für’s Erste ein ganz guter Ersatz zu sein.

Und das war’s schon mit Rügen. Unbedingt muss ich hier nochmal her. Sicherlich sollte man die Hochsaison umgehen, aber selbst an diesem Pfingstwochenende fand ich es nicht zu überlaufen. Rügen ist dann doch so weitläufig und mit so vielen schönen Orten gesegnet, dass weder die Nazizeit, der Sozialismus oder das 9-Euro-Ticket der Schönheit der Insel wirklich schaden konnten.

Stralsund

Direkt gegenüber von Rügen liegt Stralsund, bis zu meinem nächsten Ziel sind es nur etwa zwei Stunden, also nehme ich die historische Hansestadt natürlich auch noch mit. Aber ganz ehrlich: da habe ich schon atmosphärischere Orte besucht. Natürlich sind die Backsteinarchitektur und die Lage klasse, doch irgendwas fehlt der Stadt. Benennen kann ich es nicht, Stralsund ist Weltkulturerbe, es muss an mir liegen, dass der Funke nicht überspringt. Ist halt auch schwer, wenn man sich ständig mit einer Inselschönheit in Sichtweite messen muss. Ein letzter Blick hinüber an die Küste von Rügen, dann steige ich ins Auto und wechsel mal das Land.

Ein gut gehütetes Geheimnis

Nachdem es in Sachsen so gut geklappt hat, lasse ich mich auf dem Weg Richtung Norden wieder von meinen Ahnen leiten. Die Vorfahren meiner Großmutter kamen aus dem Gebiet zwischen Magdeburger Börde und Harzvorland und so miete ich mich für eine Woche in einem der vielen Orte in dieser Gegend ein, die auf -leben enden. Hadmersleben und hier das reizende Landhaus Rosmarin heißt meine neue Heimat auf Zeit.

Die Wohnung im Dachgeschoss eines liebevoll restaurierten Bauernhauses ist so gemütlich, dass ich eigentlich nicht mehr wegmöchte. Und was für ein schöner Ort. Kleine Fachwerkhäuschen reihen sich entlang der kopfsteingepflasterten Sträßchen auf, ein riesiger Klostergutshof zeugt von der Geschichte des Ortes, ein nur unwesentlich kleinerer Amtshof, eine doppelspitzige Kirche und daneben ein Landinternat wie von Enid Blyton erdacht. Drumherum grüne Felder, blühende Schrebergärten und Pferdekoppeln.

Und Hadmersleben ist keine Ausnahme, fast alle der kleinen Orte drumherum
sind so idyllisch. Es scheint sogar ein Tourismuskonzept für die Region zu geben, man fragt sich aber, ob die Urheber bei der Entwicklung noch ganz nüchtern waren: warum gute Luft und Stille propagieren, wenn man Gestank und Lärm haben kann. Eine Motorsportarena und etwas weiter weg eine Autocross-Rennstrecke, so kann man sich seine grandiose Natur auch versauen. Bis zur Gastronomiefrage kamen – wie in Sachsen – auch diese Planer nicht, aber das bin ich ja langsam gewohnt. Hören tu ich die Knatterei von meinem kleinen Paradies aus zum Glück nicht und ich hab eine kleine Küche.

Auch Hadmersleben hat einen Lost Place – eine ehemalige Malzfabrik. Fasziniert stehe ich vor dem großen roten Backsteinbau, da spricht mich eine Frau an. „Ziemlich scheußlich, oder?“ Nein, finde ich gar nicht. Sie sieht die zerbrochenen Scheiben, die bröckelnden Steine. Mich nimmt die morbide Atmosphäre gefangen. Sie wohnt gegenüber, ich kann wieder gehen. Als ich sie frage, was früher dort produziert wurde, leuchten ihre Augen auf. Kaffee und später Süßigkeiten. Aber alles abgewickelt nach der Wende. In einem Fenster sehe ich später ein Schild, tatsächlich: Hadme Kaffee. Die Fabrik soll zu einem Kunst- und Kulturprojekt werden, ein Ehepaar aus der Nähe von Heidelberg hat sie gekauft und versucht es mit Crowdfunding. Viel Arbeit, aber wenn das klappt, wird es sicherlich toll.

Die alte Malzfabrik in Hadmersleben

Und rundherum gibt es noch so viel mehr zu sehen. Nur 20 Kilometer weiter wartet eine der schönsten Städte Deutschlands auf mich: Quedlinburg. Über dem traumhaften Fachwerkensemble der Innenstadt thront der Quedlinburger Dom, in dem mein Ururgroßvater getauft wurde. Nach einer sehr empfehlenswerten Führung weiß ich, dass dort noch ein bisschen mehr passiert ist: Heinrich der Erste liegt hier begraben, die Äbtissin Mathilde war um 900 die mächtigste Frau des Reiches, die Nazis bauten den Dom um, damit pathetische SS-Shows veranstaltet werden konnten. Und dann noch die Story des Quedlinburger Domschatzes, den ein kunstverständiger US-Soldat per Feldpost in die USA schickte, wo das Samuhel-Evangiliar, eines der wertvollsten Bücher der Welt, in einem Bankschließfach verstaubte, bis ein Schatzsucher es in den 90er Jahren entdeckte.

Der Quedlinburger Dom
Der Quedlinburger Dom

Doch in Quedlinburg sollte man sich nicht auf den Dom beschränken. Die Altstadt besteht aus über 2000 Fachwerkhäusern, prächtig wie das Rathaus oder noch darauf wartend wachgeküsst zu werden, wie das ehemalige Wohnhaus meiner Ururgroßeltern. Der ganze Romantiktraum ist Weltkulturerbe und eine Reise wert.

Quedlinburg

Das benachbarte Halberstadt kann da nicht ganz mithalten, auch weil es im zweiten Weltkrieg sehr stark in Mitleidenschaft gezogen wurde. Die teilweise Sanierung gibt einen kleinen Eindruck davon, warum Halberstadt als „Rothenburg des Nordens“ galt. Besonders beeindruckend ist der Halberstädter Dom. Von außen halt ein Dom, ist das Innere atemberaubend. Im riesigen gotischen Halbdunkel hat die weitgehende Abwesenheit von Farbe eine ganz besondere Wirkung. Vorwiegend die steinernen Dekorationen wirken hier und setzen das wenige Bunt von Kirchenfenstern und Altar perfekt in Szene. Lohnt sich sehr!

Der Dom zu Halberstadt
Der Dom zu Halberstadt

Eine ganz besondere Attraktion befindet sich ein paar Kilometer außerhalb von Halberstadt im Ortsteil Langenstein: Höhlenwohnungen. Nicht von den Harzer Verwandten der Neandertaler, sondern von jungen Arbeiterfamilien Mitte des 19. Jahrhunderts in den Stein geschlagen, weil sie sich andere Wohnungen nicht leisten konnten. Der letzte Höhlenmensch zog vor gerade mal hundert Jahren aus und dank einer Privatinitiative wirken die Wohnungen heute so, als wären die Bewohner gerade nur mal einkaufen gegangen. Ein ganz reizendes Hobbitdorf im Harzvorland.

Die Felsenwohnungen von Langenstein

Gänzlich unbekannt dürften zwei Orte sein, die für mich von großer Bedeutung sind – Hoym und Frose. In Hoym lebte um 1800 mein fünffach-Urgroßvater, der Schäfer David Heitmann mit seiner Familie. Seine Frau und meine fünffach-Uromi Charlotte Hohendorf kam 1760 in Frose zur Welt. 

Das Dorf Hoym gruppiert sich um das fürstliche Schloss, dessen Schafmeister David Heitmann war. Heute ist hier die größte Behinderteneinrichtung des Landes Sachsen-Anhalt untergebracht. Die Häuser im alten Dorfkern und besonders die Kirche auf der anderen Seite der stark befahrenen Straße dürften zu Zeiten der Familie Heitmann kaum anders ausgesehen haben. Sogar eine Schäfergasse gibt es, vielleicht haben sie hier gewohnt. Rund um die Kirche sind einige alte Grabsteine erhalten, Heitmann steht leider auf keinem. Aber ich gebe zu: wenn man nicht gerade einen fürstliche Schafe hütenden Vorfahren hat, lohnt sich der Weg nach Hoym nicht unbedingt. Hübsch ist es trotzdem.

Impressionen aus Hoym
Impressionen aus Hoym

Nach Frose ist es nur ein paar Minuten mit dem Auto. Ein komplett ausgestorbener Ort, verzweifelt stürzt sich der polnische Amazonlieferant auf mich in der Hoffnung, ich könnte ihm mit einer Lieferadresse weiterhelfen. Er mag nicht glauben, dass ich als Besucherin hierher gekommen bin. Dabei könnte Frose ein echtes Zentrum der Reformationsfans sein: Bauernkriegsführer Thomas Müntzer war an der Kirche St. Cyricus zwei Jahre als Probst tätig. Was andernorts mindestens zu einem Müntzer-Café mit gleichnamigen Pralinen geführt hätte, entdeckt man hier eher zufällig. Und auch wenn Frose genauso wie Hadmersleben an der „Straße der Romanik“ liegt – der interessierte Tourist wird vor verschlossenen Türen stehen gelassen. Aber egal, ich wollt ja nur mal gucken, wo X-Uroma aufgewachsen ist und heute habe ich ein Vesperpaket dabei.

Wirkungsstätte von Thomas Müntzer in Frose
Wirkungsstätte von Thomas Müntzer in Frose

Und dann ergattere ich superkurzfristig einen spannenden Tag im Evangelischen Kirchenbucharchiv in Magdeburg – eigentlich sind die Plätze immer Wochen im Voraus ausgebucht. Viel neues Material für weitere Reisen, aber das will erst mal sorgfältig ausgewertet sein. Zeit für die Stadt selber bleibt mir nicht, aber es ist auch nicht mein erster Besuch. Gerade eine halbe Stunde ist Magdeburg von Hadmersleben entfernt, hat man also mal Hunger auf die Großstadt und überhaupt, die Landeshauptstadt ist quasi einen Katzensprung entfernt. 

Bei allen spannenden Besichtigungen genieße ich aber die wunderschöne Landschaft hier in der Magdeburger Börde am allermeisten. Der Harz selber bleibt für mich nette Kulisse im Hintergrund – es gibt so viel zu sehen und zu genießen, wer braucht da schon Berge im norddeutschen Flachland. Doch wie in Sachsen: sie halten die Attraktionen und die Schönheit ihrer Gegend streng geheim. Tourismuswillige werden mit nutzlosen Autorennstrecken in die Irre geführt. Aber passt auf, ihr wunderschönen Orte im Harzvorland, ihr werdet schon noch entdeckt werden!

 

In Sachsens Mitte

Dass Sachsen mit großartigen Tourismuszielen aufwarten kann, hatten wir schon auf unseren letzten Reisen entdeckt. Dresden, Görlitz, die große Überraschung Bautzen und erst jüngst Leipzig – zumindest die sächsischen Städte waren bisher eine Reise wert. Wenn ich schon in der Gegend bin, gebe ich doch auch dem ländlichen Sachsen eine Chance. Ich suche mir die Gegend südlich von Leipzig zwischen Zwickau und Chemnitz aus. Hier lebte die Familie meines Großvaters, hier kann ich Touristin und Ahnenforscherin sein.

Ich miete mich im kleinen Dorf Mühlau ein. Ein hübsches Apartment mit riesigem Garten bis hinunter zu einem idyllischen See und es hätte alles so perfekt sein können, wenn die netten Besitzer die ländliche Stille nicht mit ihrem Hausbauprojekt auf dem übernächsten Grundstück ruiniert hätten. Aber sie waren so stolz auf ihr werdendes Eigenheim und dass es auf dem Land ruhig ist, ist sowieso ein Mythos. Einer mäht immer…

Doch ich bin ja da, um die Umgebung zu erkunden. Und die ist voll üppiger Natur und hübscher Städtchen. Gelbe Rapsfelder leuchten in der Sonne, saftig-grüne Felder, sanft geschwungen und wie gemacht für lange Wanderungen und Radfahrten. Idyllische kleine Dörfer, viele der historischen Gebäude komplett erhalten und instandgesetzt. Urige Kopfsteinsträßchen, verwunschene Schlösschen, die noch darauf warten, wachgeküsst zu werden. Und alles habe ich fast für mich alleine. Tourismus ist hier nur eine Randerscheinung. Wander- oder Radwege scheint es kaum zu geben, aber die entsprechenden Pfade kann ich mir noch selber bahnen. Wirklich schade ist, dass ein Café mit schönem Blick und dem guten sächsischen Kuchen oder gar ein idyllischer Biergarten so gut wie nicht zu finden sind. Gastronomie beschränkt sich vielerorts auf einen „Asia Dönerimbiss“ oder eine unregelmäßig geöffnete Bäckerei. Und montags braucht man es eigentlich gar nicht zu versuchen, fast alles zu. Horden von Touristen könnte man hierher locken, gerade jetzt, wo Deutschland als Reiseziel sexy geworden ist. In meinem nächsten Leben werd ich Tourismusberaterin und Besserwessi.

Zum Beispiel Waldenburg. Hier braute schon mein Ururgroßvater Bier und hatte damals hoffentlich auch daran gedacht, es unters Volk zu bringen. Die Oberstadt thront über dem Tal, mit Schloss – natürlich zu – und Naturalienkabinett – meistens zu. Aber wenn letzteres offen ist, ist es einen Besuch wert. Eine politisch nicht immer korrekte Sammlung von toten Tieren und toten Menschen. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist die Sammlung fast unverändert hier untergebracht. Die Räume mit den großen Holzregalen und den sorgfältig beschrifteten Exponaten im Halbdunkel des historischen Gebäudes kreieren eine ganz besondere Atmosphäre und ich bin mir nicht ganz sicher, ob sich die ausgestellte Mumie vielleicht nicht doch kurz bewegt hat…

Waldenburg nennt sich Keramikstadt und zu Zeiten meiner Vorfahren produzierten hier fast vierzig Töpfereien allerlei Tonwaren. Heute sind es immerhin noch sechs und in mein Reisegepäck wandert eine Tasse aus einer kleinen Manufaktur. Der Ortsteil Altstadt Waldenburg liegt im Tal und von hier aus gelangt man zu einem riesigen Landschaftspark nach englischem Vorbild. Deswegen hieß der Park zum Zeitpunkt seiner Entstehung Ende des 18. Jahrhunderts auch zunächst Greenfield. Heute ist er eingedeutscht und um den Grünfelder Park bis in den letzten Winkel zu erkunden, bräuchte man mindestens einen halben Tag. Ein großes Steintor hier, ein idyllisches Teehaus da, weidende Pferde, kleine Seen, einfach ein herrlicher Ort. Ich stelle mir vor, wie Urgroßvater Max als er noch ein Mäxchen war, hier Abenteuer erlebte, während der Vater köstliches Bier braute, das die Waldenburger am Abend mit Blick über die üppige Natur aus selbstgetöpferten Bierkrügen tranken – stopp, so idyllisch wird’s sicher nicht gewesen sein.

Weiter nach Burgstädt. Hier müsste ich mich zurückbeamen an den Anfang des 19. Jahrhunderts, um meinen Vorfahren zu begegnen. Aber Burgstädt ist so entzückend, so gut erhalten und renoviert, dass ich mir eine Zeitreise auch ohne Technik sehr gut vorstellen kann. Doch leider auch hier: auf dem schönen Marktplatz, dem reizenden Rathausplatz, in den kleinen Gassen, nirgendwo scheint Leben zu sein. Kein Café, kaum Menschen unterwegs, so schade. Auf der Suche nach dem Leben meiner Vorfahren besuche ich das kleine Heimatmuseum neben der Kirche. Die freundliche Dame begleitet mich durch die Räume, die unter anderem ein Schulzimmer und eine Heimarbeiterstube beherbergen. Wir kommen ins Gespräch, sie erzählt von der Zeit vor und nach der Wende. Das ist keine Stadt mehr, das ist ein Naherholungsgebiet, seufzt sie, nachdem sie von der Blütezeit der Textilindustrie, die über Nacht abgewickelt wurde, berichtet hat. Keine verklärte Ostalgie, sie erzählt auch von ihrem Gemüseladen zu DDR-Zeiten, in dem es zum Schluss nur noch Kartoffeln und Kohl zu kaufen gab. Nach einer sehr aufschlussreichen und sympathischen Stunde verabschiede ich mich aus dem reizenden Museum.

Ziemlich auffällig und auch für das Museum bezeichnend: die Freundlichkeit der Menschen. Ich bin es gar nicht mehr gewöhnt, ständig gegrüßt zu werden. Selbst die coolen Youngster, die sich mit einer Flasche Bier am See niedergelassen haben, sagen freundlich Hallo, auf dem Marktplatz blicke ich nur kurz suchend auf mein Handy, da fragt mich schon eine Frau, ob sie mir weiterhelfen kann. Auf dem Parkplatz komme ich dann ins Gespräch mit einem Mann, der sich als Bürgermeisterkandidat für Burgstädt entpuppt. Ich sei leider nicht seine Zielgruppe, sage ich ihm, er hat ja auch schon mein Stuttgarter Kennzeichen gesehen. „In sieben Jahren vielleicht“, grinst er. Cafés und Kneipen will er in die Innenstadt bringen, das ist doch mal ein Ansatz. Irgendwann frage ich, für welche Partei er kandidiert, und bin erleichtert, dass er nicht AfD sagt. Wie er denn mit denen umgeht, frage ich, und ein bisschen scheint er sich in sein Schicksal ergeben zu haben. „Der Sachse ist grundsätzlich erst mal gegen alles“, stöhnt er, und das bedient die AfD ja glänzend. Ich wünsche ihm viel Erfolg bei seiner Überzeugungsarbeit und verabschiede mich – vielleicht bis in sieben Jahren 🙂

Blick auf Burgstädt

Eine so schöne Gegend, die so unentdeckt ist. In jedem Ort gibt es kleine Abenteuer zu erkunden, die Altstädte sind häufig komplett erhalten und klasse saniert, die dekorativ verfallenden Gebäude der alten Textilfabriken am Stadtrand müssten ein El Dorado für Fans von „Lost Places“ sein. Und das alles eingebettet in schönste Natur. Wenn man sich sein Vesper selber mitnimmt, dann ist die Mitte Sachsens eine echte Wonne!

Abendidyll Mühlau

 

Leipzig!

Was für eine gute Entscheidung, meine Auszeit in Leipzig einzuläuten. Erst mal Ankommen im Rumkommen, das war mein Ziel, und dabei habe ich fast zufällig meine neue Lieblingsstadt entdeckt!

In Leipzig stimmt für mich alles: die freundliche „Senfbude“, in der nicht nur ein kleines Apartment, sondern auch eine dreibeinige Schmusekatze und ein Fahrrad auf mich warten. Das frühlingshaft warme Wetter. Die entspannte Atmosphäre. Und jeden Tag eine neues Abenteuer.

Ich wohne in Stötteritz im Südosten der Stadt in einer alten Senffabrik. Umgeben von Datschen in üppig grünen Gärten geht es hier ruhig und entspannt zu. Trotzdem ist man mit dem Fahrrad in einer Viertelstunde in der Stadt. Schon beim Ankommen war das riesige Völkerschlachtdenkmal nicht zu übersehen. Hier will ich meine Entdeckungstour starten und schwinge mich am nächsten Tag auf’s Fahrrad. Die Anlage ist riesig, pompös, wilhelminisch. Und trotzdem faszinierend. Für das Innere braucht man zunächst einmal Kondition – insgesamt 500 Stufen bis ganz hinauf zur Kuppel. Es gibt zwar einen Fahrstuhl, aber der ist den Leuten vorbehalten, die nicht so gut zu Fuß sind, und zu denen möchte ich noch nicht gehören. Eine Pause lege ich schon im ersten Stock ein: eine Filmpräsentation zeigt die Ereignisse von der Völkerschlacht 1813 über Bau und Einweihung des Denkmals hundert Jahre später bis heute. Kraft tanken für den weiteren Aufstieg, der auf der Aussichtsplattform mit grandiosem Blick in 91 Meter Höhe endet. Erst nach dem Weg hinunter schaue ich mir Krypta und Ruhmeshalle genauer an. Die riesigen Steinfiguren im Halbdunkel, der sphärische Chorgesang, allein die Atmosphäre beeindruckt. 

Aber jetzt ist Zeit für etwas Sonne, auf dem benachbarten Südfriedhof lässt es sich in Ruhe flanieren. Die Familiengräber der Baedekers und Ullsteins stimmen mich ein auf die Buchstadt Leipzig. Und welcher Ort kann danach passender sein als die Deutsche Nationalbibliothek, die ich eher zufällig entdecke. Kaum bin ich drin, haben mich die sehr freundlichen Mitarbeiter schon mit einem (kostenlosen!) Leseausweis versorgt. Ich durchstreife die original restaurierten Lesesäle und recherchiere nach Literatur für meine Familienforschung. Am nächsten Tag macht mir eine Bombe einen Strich durch die Rechnung – bitte sofort die Bibliothek verlassen, Weltkriegsbombe auf dem Gelände der gegenüberliegenden Alten Messe. Die Entschärfung in der Nacht war erfolgreich, einen Tag später darf ich wieder rein.

Aber zunächst einen Besuch in der Innenstadt. Ich starte meine Tour am Marktplatz, das alte Rathaus leuchtet in der Sonne, Naschmarkt, Auerbachs Keller, dann weiter zur Nikolaikirche – hinter jeder Ecke erwartet mich Geschichte und Kultur. Bach, Mendelssohn Bartholdy und Goethe, Handel, Messe und Bürgertum, die friedliche Revolution – überall finden sich ihre Spuren in der Stadt. Die vielen Passagen laden dazu ein, die berühmten Höfe zu entdecken – schöne Restaurants, viel Jugendstil, Ruhe in der quirligen Stadt. 

Weiter zum Bahnhof, einem ganz besonders gelungenen Beispiel für die Restaurierung eines Kopfbahnhofs. Viel Licht und Luft im Inneren, in den grandiosen Wartesälen der wahrscheinlich schönste Starbucks. Hat 250 Millionen Euro gekostet, Stuttgart, nicht 9 Milliarden. Schön und funktionell ist es obendrein.

Dann der Augustusplatz. Das Gewandhaus atmet wuchtige DDR-Architektur, hat aber sicherlich eine grandiose Akustik. Der neobarocke Mendebrunnen davor lässt erahnen, dass hier vieles verloren ging, durch Krieg oder Sozialismus. Ein sehr trauriges Beispiel findet sich vor dem modernen Gebäude der Universität: ein kleines bronzenes Modell der Universitätskirche, 1240 geweiht. Die hatte den Krieg fast unbeschadet überstanden, stand dann aber dem Sozialismus im Weg. Am 30. Mai 1968 wurde sie gesprengt. Der ultramoderne Neubau hinter dem Modell neigt sich leicht zu der Seite, in der die Kirche einsackte. Auch im Inneren hat man sich an einer modernen Interpretation der Rekonstruktion versucht und ich finde, sie ist gelungen.

Leipzig ist ein idealer Ort zum Fahrradfahren, flach mit häufig breiten Straßen, wenig aggressiven Autofahrern und einer ganz hervorragenden Infrastruktur, die Radfahrer und Fußgänger Ernst nimmt. Eigene Ampeln, Beschilderung, Erklärung, warum an dieser Stelle Vorsicht oder sogar ein Absteigen notwendig ist. Und siehe da, wenn man alle Verkehrsteilnehmer gleichberechtigt behandelt, dann benehmen sie sich auch. Der coole Hipster-Radler hält an der roten Ampel, die flippige Studentin steigt an der Baustelle ab und schiebt ihr Rad kurz. Natürlich gibt es auch hier den wütenden Kampfradler, der sich an nichts hält, aber im Großen und Ganzen geht es auf den Straßen friedlich und entspannt ab. Und weil Radeln hier so viel Spaß macht, erkunde ich auch noch das Waldstraßenviertel und die schönen angrenzenden Parks, bis ich mich im Stadtteil Gohlis vor einem Rokokoschlösschen wiederfinde. Im dazugehörigen Lustgarten kann man den Tag wunderbar bei einem Gläschen Wein ausklingen lassen und herausfinden, dass so die Sommerfrische reicher Leipziger Bürger vor zweihundert Jahren aussah. Auf dem Rückweg durch das Rosental tauchen plötzlich die Giraffen des Leipziger Zoos auf ihrem Weg ins Nachtquartier auf. Ein netter Abendgruß.

Und was war noch? Orgelvesper in der Nikolaikirche, sehr schön! Der Marzipantraum Leipziger Lerche im Café Riquet, sehr lecker! Eine Gose, säuerlich-salziges Bier, gebraut im Bayerischen Bahnhof, sehr interessant! Der botanische Garten der Universität, sehr idyllisch! Die komplett erhaltenen Straßenzüge mit feinster Gründerzeitarchitktur, sehr beeindruckend! Und die Begegnung mit einem bisher unbekannten Verwandten, sehr bewegend! Ahnenforschung bringt die Menschen zusammen, sehr wichtig!

Am letzten Tag dann noch ein Highlight: eine Kanalrundfahrt durch Plagwitz, einem ehemaligen Industrieviertel. Ich habe Glück und ergattere am freundlichen Bootsverleih Klingerweg einen Platz im „Eisvogel“ und verbringe die Wartezeit im gegenüberliegenden Clara-Zetkin-Park auf einer duftigen Frühlingswiese. Wir tuckern anderthalb Stunden durch die lauschigen Kanäle und bestaunen das, was am Ufer geboten wird. Der Umbau des einstigen Industrieviertels ist sehr gelungen – fantastische Wohnungen mit Blick auf die idyllischen Wassersträßchen, Restaurants, eine Slackline über das Wasser, Menschen, die einfach nur die Schönheit genießen – wow!

Nach einer Woche habe ich das Gefühl, bei Weitem nicht alles gesehen zu haben in dieser wunderschönen Stadt. Ich war in keinem einzigen Museum, habe nur einen kurzen Eindruck von den vielen Parks bekommen, habe den Thomanerchor und das Gewandhausorchester nicht gehört. So viel Kultur, so viel schöne Architektur, so viele Parks, so eine entspannte Atmosphäre. Wer weiß, vielleicht lande ich ja eines Tages für längere Zeit in Leipzig. Vorstellen könnte ich es mir.

Losfahren

Wäre alles wie ursprünglich geplant gelaufen, hätte ich das Sabbatjahr heute bereits hinter mir. Aber erst fühlte ich mich zu gut im neuen Job, dann kam Corona: es gab immer wieder Gründe, meine Auszeit zu verschieben. Viel Zeit also für Pläne aller Art. Die Pandemie macht die Reisewelt kleiner und ich fing an, über einen Roadtrip nachzudenken. Einfach rein ins noch nicht vorhandene Auto und los, am besten Richtung Osten. Erst ein bisschen Familienforschung in Ostdeutschland, dann Polen, ein Abstecher nach Lemberg, Baltikum hoch bis nach Estland und dann übersetzen nach Finnland. Dieser Plan verfestigte sich immer mehr. Dann kam der Krieg. 

Ich will es trotzdem wagen. Lemberg habe ich vorerst von der Liste gestrichen. Wunderschönes Lviv, sobald dieser furchtbare Krieg vorbei ist, werde ich das nachholen. 

Ein Auto zu kaufen in Zeiten explodierender Anschaffungs- und Benzinpreise ist vielleicht nicht vernünftig, aber ich will jetzt. Das neue Globomobil ist ein unauffälliger Golf, der hoffentlich nicht ins Visier autogieriger Schurken gerät. 

Das Schicksal hat für mich einen Bruch vorgesehen – gerne hätte ich meine Wohnung behalten, ein paar Monate untervermietet und mich nach einem Jahr wieder in die gewohnten Kissen geschmissen. Aber diverse Wassereinbrüche, zuletzt direkt über meinem Bett, gaben mir ein äußerst schlechtes Gefühl, hier während meiner Abwesenheit einen Untermieter zu beherbergen. Also trennte ich mich schweren Herzens von meinem Turmwächterinnendomizil und bin gespannt, wohin mich die Zukunft treiben wird.

Die letzten Wochen sind stressig wie gehabt – egal, wie früh man anfängt mit Kisten packen und organisieren, die Zeit ist immer knapp. Aber geklappt hat es natürlich trotzdem. Erleichterung mischt sich mit Wehmut und dann wieder mit Vorfreude. Vielleicht auch, weil es sich gar nicht so anfühlt, als würde ich Stuttgart für ein ganzes Jahr verlassen. Muss das nicht dramatischer vonstattengehen, der letzte Spaziergang durch den Park, das letzte Treffen mit lieben Kollegen und Freunden, der letzte Blick auf meine Sachen im Möbellager?

Ich verabschiede mich nicht nur von der Wohnung, sondern auch von einem Stadtteil, den ich in den letzten Jahren lieb gewonnen habe. Stuttgart-Berg ist verkehrsumtost, ohne Einkaufsmöglichkeiten und von der Politik ein wenig vergessen – die Stadt geht nicht ernsthaft gegen den illegalen und viel zu schnellen Durchgangsverkehr vor, sie bestreitet sogar, dass es ihn gibt. „Kein bekannter Unfallschwerpunkt“, bekam ich als Auskunft im Vorfeld einer Bürgerversammlung. Muss halt erst einer totgefahren werden.

Aber Berg hat Highlights, von denen andere Stadtteile nur träumen können: den Rosensteinpark, nicht mehr so verwunschen und einsam wie noch vor Corona, aber immer noch wunderbar. Das „Flora und Fauna“ am Park war zeitweise mein zweites Wohnzimmer, eine Art Stammkneipe ist in Stuttgart gar nicht so leicht zu finden. Dann der Park der Villa Berg – hier bleiben die Stuttgart-Ostler meist noch unter sich. Auch wenn die grandiose Villa weiter verfällt. Und die Stadt im kleinen Park das Motto „Warum reparieren, wenn man sperren kann“ kultiviert. In die beiden Mineralbäder Leuze und Berg hätte ich in unter zwei Minuten im Bademantel spazieren können. Aber wie es so ist: ich war in der ganzen Zeit vielleicht zweimal im Leuze und einmal im Berg. Schade, aber so geht es mir immer mal wieder, wenn ich Dinge direkt vor der Haustür habe.

Am letzten Tag vor dem Umzug bummele ich noch einmal durch „mein“ Berg. Hinein in den Park der Villa Berg, das Wetter ist trüb, heute habe ich den Park fast für mich alleine. Der Cannstatter Wasen lärmt über den Neckar hinüber, ich bilde mir ein, dass sogar der Geruch von Bratwurst und Pommes herüber weht. Im unteren Teil des Parks sind Grabsteine wie zufällig auf dem Rasen und in den Büschen verstreut, die Aufschriften kaum lesbar. Weiter oben leuchtet die Frühlingswiese trotz des grauen Himmels. Der Krokuswiese, auf die ein Schild hinweist, ging auf selbigem das r und u verloren. Über die so entstandene „Kokswiese“ muss ich jedesmal grinsen.


Die Villa selbst bröckelt traurig wie eh und je vor sich hin. Ihre Fensterbögen sind mit Bildern der Stars, die hier im früheren SDR-Studio aufgetreten sind, dekoriert – fast alle leben nicht mehr, so wie der SDR auch, und das unterstützt den morbiden Charakter des Ortes.

Erst vor kurzem habe ich die Raitelsberg-Siedlung hinter dem Park entdeckt – ein ziemlich originales 20er-Jahre-Ensemble mit einem grandios-modernen Schulgebäude von 1929. Da hatte sich die Stadt noch was getraut. Durch einen kleinen Grünstreifen der Blick auf das Wahrzeichen von Gaisburg, den Gaskessel. Nicht Stuttgarts beste Gegend, aber spannend wie viele Ecken im Osten. Vielleicht verschlägt es mich in einem Jahr hierher?

Eric und ich gestalten einen Abschied auf Raten und fahren erst mal für ein verlängertes Wochenende in die Oberpfalz. Im schönen Berching genießen wir das unerwartet bayerische Ambiente kurz hinter der fränkischen Grenze. Ein wunderbarer Ort für einsame Wanderungen, opulentes Schäufele mit Kloß und süffiges Bier. Bei Erasbach entdecken wir eine steinerne Rinne wie aus dem Märchenbuch. Geformt durch kalkhaltiges Wasser grub sich der Bach nicht in den Boden, sondern wuchs über die Jahrhunderte nach oben und windet sich heute wie ein sagenhafter Tatzelwurm den Bergwald hinab. Am Abend sitzen wir an der Stadtmauer, schauen den Schafen beim Grasen, den Turmfalken beim Jagen und dem Storch beim Heimkommen zu. Ein sehr schöner Ort, dieses Berching.

Ein letzter gemeinsamer Frühlingstag in Nürnberg, langsam wird mir doch etwas weh ums Herz und dann kommt der Abschied ganz schnell. Kein Parkplatz vor dem Nürnberger Hauptbahnhof, also nur ein kurzer illegaler Stopp in der Taxibucht, Eric springt aus dem Auto – jetzt muss ich alleine ran!

Und es läuft. Lange nicht mehr gefahren, anfangs noch unsicher, aber sobald ich Nürnberg hinter mir gelassen habe, wird die Autobahn leerer und entspannter. Ich bin tatsächlich gestartet!

Reisen in Zeiten des Krieges

Wir hatten ihn nötig, den Urlaub. Corona beeinflusst die Reisemöglichkeiten immer noch. Nach zwei faszinierenden Polen-Reisen sollte es im kühlen März weiter südlich ins hoffentlich frühlingshafte Sizilien gehen. Aber noch nicht raus aus Europa, in Pandemie-Zeiten wollten wir auf Nummer sicher gehen. Und dann gab es Krieg in Europa.

Muss das sein, Reisen in Corona-Zeiten, diese Frage hatten wir 2020 vor unserer ersten Fahrt nach Polen für uns bejaht. Und jetzt, wo der Krieg ausgebrochen ist, Menschen vertrieben werden, ihre Heimat zerstört wird, Menschen mitten in Europa in einem Krieg sterben? Wir haben uns auch diese Frage mit ja beantwortet. Es hilft ja niemandem, wenn wir das Reisen lassen. Aber unsere Gedanken wandern immer wieder in den Osten Europas.

Im letzten Jahr sind wir hunderte Kilometer entlang der ukrainischen Grenze gefahren, im Osten Polens, von den Waldkarpaten bis nach Lublin. Und hätten uns die Coronaregeln nicht gestoppt, wir wären so gern hingefahren, nach Lemberg. Wie nah die Ukraine ist, haben wir im letzten Jahr gespürt.

In der grandiosen Natur der Beskiden im Dreiländereck Polen, Slowakei und Ukraine verbrachten wir herrliche Tage in der abgeschiedenen Pension Gutkowa Koliba. Jacek und Marysia beherbergen heute Flüchtlinge und wir sind froh, dass wir in Kontakt geblieben sind und ihre Gastfreundschaft ein wenig unterstützen können.

Przemyśl überraschte uns mit habsburgischer Eleganz und köstlichem Essen im Cuda Wianki. Heute berichtet die Weltpresse aus der Stadt nahe der ukrainischen Grenze, weil sie zu einem Drehkreuz für Flüchtlinge geworden ist.

Auch das grandiose Zamość, in dem wir uns für ein paar Tage wie venezianische Kaufleute fühlen konnten, beherbergt heute mehr Flüchtlinge als Touristen.

Den furchtbaren Bildern aus Charkiw und Mariupol kann man auch in Italien nicht entkommen, auch hier gilt unser erster Gedanke morgens den nächtlichen Geschehnissen in der Ukraine, auch hier fühlen wir uns ohnmächtig angesichts des brutalen Machtmissbrauchs. Aber auch hier bewundern wir die Stärke der Menschen in der Ukraine und ihrer Repräsentanten.

Italien zeigt sich ebenso solidarisch wie der Rest Europas. Am Flughafen werden ukrainische Passagiere willkommen geheißen, blau-gelbe Fahnen an den historischen Gebäuden, selbst der Supermarkt positioniert sich mit einer eindeutigen Botschaft für den Frieden.

Der Schönheit Siziliens musste ich dies voranstellen. Einfach so über eine Reise in den Frühling Italiens zu berichten, schien mir nicht angemessen. Aber Syrakus, Noto und Modica, Agrigent, Cefalù und das grandiose Palermo müssen in den nächsten Tagen natürlich dokumentiert werden!

Valletta, Du Schöne

Ganz am Anfang meines Urlaubs hatte ich kurz mal gelinst, wie Valletta so ist. Ein kleiner Abstecher mit der Fähre von den Three Cities, grad mal zwei Stunden Aufenthalt, aber was für ein umwerfender erster Eindruck. Valletta weiß, wie man den Neuankömmling beeindruckt: Die Anfahrt über das Mittelmeer durch den Grand Harbour, der Blick hinauf zur Stadt, die hoch oben in einer Festung thront, ist schon ein Erlebnis für sich. Mit der Fahrt übers blaue Meer ist es dann aber nicht getan. Ein moderner Aufzug trägt Seemann oder -frau 58 Meter in die Höhe und erspart den mühevollen Anstieg vom Hafen in die Stadt. Die Idee entstand Anfang des 20. Jahrhunderts, als auch Aufzüge wie der Elevador de Santa Justa in Lissabon gebaut wurden. Der ursprüngliche Lift von 1905 war bis in die 70er Jahre in Betrieb und wurde erst 2012 durch den heutigen Aufzug ersetzt. In modernen Kabinen saust man in 20 Sekunden hinauf.

Als wäre dies nicht spektakulär genug, begrüßen einen oben die Upper Barrakka Gardens: stimmungsvolle Bogengänge und ein süchtig machender Blick auf die Three Cities und den Grand Harbour. Das wird mein absoluter Lieblingsplatz in Valletta.

Drei Nächte habe ich für Valletta eingeplant. Um eine hatte ich ja schon gekürzt, und weil der Katamaran von Gozo ebenfalls am Fährhafen anlegt, komme ich wieder in den Genuss der spektakulären Anfahrt. Der Marsch zu meiner Wohnung ist nicht ganz ohne, in Valletta geht es steil bergauf und bergab. Mein viel zu schwerer Rollkoffer wirkt hinauf wie Blei, hinab schubst er frech an meinen Fersen. Beim ersten Betreten der Wohnung bin ich kurz enttäuscht: das sollen 60 qm sein? Eine Küche und ein Schlafzimmer, hm. Eine Treppe führt hinunter zum Notausgang, immer gut zu wissen, wohin man flüchten kann, aber dort unten tut sich dann noch etwas auf. Im Gewölbekeller verbirgt sich ein gemütliches Wohnzimmer, angenehm kühl und sehr stimmungsvoll. Hier mag ich bleiben!

Valletta ist die kleinste Hauptstadt in der EU. Die allerkleinste. 80 Hektar, das ist grad drei mal so groß wie der Cannstatter Wasen in Stuttgart oder weniger als ein Viertel meiner Hamburger Heimat Wellingsbüttel. Haste nicht gesehen, stehste schon im Nachbarort Floriana. Aber trotzdem bringen sie das Kunststück fertig, hier 25 Kirchen, diverse Regierungsgebäude, eine Touristenmeile, Museen und ganz normale Wohnviertel unterzubringen. Gut, gibt auch nur 6000 Einwohner 🙂

Trotzdem wirkt die maltesische Hauptstadt erstaunlich großzügig und in drei Tagen wird einem garantiert nicht langweilig. Piraten oder so können mir bei meinen Erkundungen nicht in die Quere kommen, umgeben von diversen Bastionen gilt Valletta als eine der am besten gesicherten Städte der Welt. Und oben drauf ist sie auch noch Weltkulturerbe.

Valletta war außerdem 2018 Europäische Kulturhauptstadt und was das mit Orten Gutes machen kann, habe ich in Hermannstadt erlebt. Viel wurde restauriert, aber nicht alles, und dieser Mix ist einfach spannend. Valletta ist natürlich eine Gründung der Kreuzritter. Nach der großen Belagerung war Birgu nicht mehr standesgemäß und Großmeister Jean de la Vallette gründete 1566 flugs am Ufer gegenüber diese gigantische Ritterburg. Valletta litt heftig unter dem Bombenterror der Deutschen, aber der Wiederaufbau ist sehr gut gelungen. Neues wie das maltesische Parlament passt sich genauso ein wie die restaurierten Paläste der Ritter oder das Fort St Elmo an der nördlichen Spitze der Mini-Stadt.

Ein absolutes Muss ist die St John’s Co-Cathedral, trotz heftiger 15 Euro Eintritt. „Co“, weil der Erzbischof von Malta seinen Sitz gleich noch in einer zweiten Kathedrale in Mdina hat. Bei dieser Pracht könnte ich mich auch nicht entscheiden. Von außen schlicht und vermeintlich unspektakulär eröffnet sich innen eine barocke Pracht, für die man mehrere Stunden mitbringen sollte.

In den landsmannschaftlichen Kapellen der Ritter lassen sich so viele Details entdecken, den Boden des Kirchenschiffs zieren Geschichten erzählende Grabplatten, an den Wänden und der Decke ist kein Quadratzentimeter undekoriert und ein besonderer Genuss ist das riesige Gemälde „Die Enthauptung Johannes des Täufers“ von Caravaggio. Dieses Spiel mit Licht und Schatten ist so eindrucksvoll, perfekt inszeniert in einem Seitenschiff der Kirche. Nicht verpassen sollte man den kurzen Film über Caravaggios Leben, der hinter einem Durchgang gleich rechts vom Eingang des Ausstellungsraumes gezeigt wird. Und auf gar keinen Fall sollte man sich von den Stufen hinauf auf die Galerie schrecken lassen. Der Blick auf den Altarraum und die Möglichkeit, der prächtigen Deckenbemalung ein klein wenig näher sein zu können, lohnt jeden steilen Aufstieg.

Ein Besuch in der Sacra Infermeria, die heute das Mediterranean Conference Center beherbergt, ist ein weiterer Höhepunkt. Das Krankenhaus der Ritter aus dem Jahr 1575 war im 16. Jahrhundert ein internationales Vorbild für moderne medizinische Versorgung. Mit seiner riesigen Halle, dem spektakulären Kellergewölbe und den Seitengängen ist das Gebäude eigentlich schon Attraktion genug. Dazu kommt die Ausstellung „The Knights Hospitallers“ im Keller, die toll gemacht ist und einen anschaulichen Überblick über die Geschichte der Ritter gibt.

Plötzlich sind da Ritter….
wo vorher keine waren

Aber dann setzen sie noch mal eins drauf mit „Augmented Reality“. Per Bildschirm entweder des eigenen Handys oder eines Pads zum Ausleihen kann man sich die Ritter in die Räume beamen. Eine sehr nette Spielerei, sehr anschaulich wird einem klar, wie hier gearbeitet, gelebt, gebetet und geheilt wurde.

 

Und meine letzte Empfehlung ist ein Besuch des Casa Rocca Piccola in der Republic Street. Die Familie de Piro lebt seit Generationen in diesem Haus, hat aber einen Großteil der Räume für Besucher geöffnet. Auf einer freundlichen Führung kriegt man einen intimen Einblick in das Leben der adligen Familie damals und heute. In den üppig dekorierten Räumen kommt man sich fast wie ein Voyeur vor, Familienbilder, persönliche Gegenstände, aber das ist gewollt. Mit großem Stolz präsentieren sie die Einladung der Großeltern zur Krönung der Queen und es stellt sich heraus, dass der freundliche ältere Herr im Innenhof Marquis Nicholas de Piro, selbstverständlich auch ein Malteser Ritter, ist.

Nicht geschafft habe ich es in die Ausstellung des Nationalmuseums MUŻA. Aber kleiner Tipp: das wunderbare Restaurant ist eine Oase, schöne Atmosphäre, anständige Preise, gutes WLAN und kaum Besucher. 

Valletta verkraftet den Ansturm der vielen Tagestouristen souverän. Nicht nur die Fähren aus den Three Cities karren halbstündlich Besucherinnen und Besucher herbei. Auch aus dem auf der anderen Seite der Landzunge liegenden Ferienort Sliema strömt es vor allem am späten Nachmittag und stetig spucken große Kreuzfahrtschiffe Gruppen in die Stadt. Die Stimmung in der Fußgängerzone ist trotzdem heiter und entspannt. Die Partyszene kommt nördlich von Valletta auf ihre Kosten, wer hierher fährt, möchte sich einen schönen Abend in mediterranem Flair machen. Zudem gilt Malta noch als eines der schwulenfreundlichsten Länder und ältere gutgelaunte Männergruppen tragen zur gelassenen Atmosphäre bei. Die Freiluftrestaurants lassen Corona vergessen, gutes Essen wird in großen Portionen aufgetischt, der sommerliche Abend beginnt am späten Nachmittag mit einem anständigen Aperitivo und Musik klingt aus allen Richtungen.

Alles in allem: Valletta sollte man unbedingt mehr Zeit als einen kurzen Tagesausflug geben. So viel gibt es zu entdecken, zu essen, zu genießen. Nicht nur die klassischen Touristenattraktionen. Ein paar Schritte neben den Hauptstraßen findet das typisch maltesische Leben statt. Am letzten Abend bummele ich auf der Befestigungsmauer hoch über dem Meer. Unter mir ein Sandplatz, flutlichtbeschienen. Männer werfen mit Kugeln und Zylindern auf einen winzigen Ball. Bocci, ähnlich wie Petanque oder Boccia, wird hier sehr ernst genommen. Fasziniert verfolge ich das Spiel von meinem Logenplatz und leide mit den Grünen, die sich den Roten geschlagen geben müssen. Ist ja fast wie daheim 🙂

Und dann endet alles wie es begonnen hat. In Frankfurt haben alle, aber wirklich alle Züge mindestens 60 Minuten Verspätung. Und ich lerne eine Menge anderer Gründe der Deutschen Bahn kennen. Streckensperrung, technisches Problem eines vorausfahrenden Zuges, verspätete Bereitstellung. Da ich ja eh mindestens eine Stunde auf den Zug nach Stuttgart warten muss, warum kein gepflegtes Bier im Airport Hilton. Ich betrete die noble Eingangshalle, schreite mit meinem verbeulten Koffer zur coolen Bar und stehe in der Schlange. Drei Leute vor mir warten darauf, zu ihrem Platz geführt zu werden, um fünf Euro für ein Bier zahlen zu dürfen. Aber keiner kommt, um uns einen dieser Plätze zuzuweisen. Nach zehn Minuten breche ich das Experiment ab und finde einen fröhlichen City Rewe im Flughafen. Die sind gewappnet, haben sogar einen Flaschenöffner an der Kasse. Den werde ich dann zwei mal brauchen. Aus 60 werden 80 und am Ende 91 Minuten Verspätung. Echt gut, dass ich noch Malta-entspannt bin….

Irgendwann um Mitternacht endet dann diese äußerst überraschende Reise. Was für ein tolles Land. Von dem ich einfach noch nicht genügend gesehen habe. To be continued……

Von Rittern und Helden

So idyllisch die Inseln im tiefblauen Mittelmeer weitab von allem Unbill wirken, so kriegerisch ist doch ihre Vergangenheit. Ihre strategische Lage wurde ihnen mehrfach zum Verhängnis.

Da waren zunächst die Ritter des Johanniterordens, auf deren Spuren man heute noch in jedem Winkel von Malta und Gozo stößt. 1048 in Jerusalem gegründet, um kranke Pilger zu versorgen, gehörte schnell auch die militärische Sicherung zu ihrem Repertoire und so schlitterten sie von einem Kampf in den nächsten. Erst Jerusalem, dann Akko und 1291 die endgültige Vertreibung aus dem Heiligen Land. Dann ging es nach Zypern, 20 Jahre später nach Rhodos – immerhin für 200 Jahre – und 1530 schließlich nach Malta.

Hier befestigte der Orden so ziemlich alles, was man zur Verteidigung der Inseln brauchte und noch heute kann man sich zum Beispiel im Fort St Angelo in Birgu, der Zitadelle von Victoria oder den Gassen von Mdina wie ein alter Kreuzritter fühlen.

 

Auf den Sieg der Ritter über die Ottomanen in der großen Belagerung, der „Great Siege“ von 1565, ist man immer noch stolz. 40.000 Türken wurden nach viermonatiger Belagerung von knapp 18.000 Rittern in die Flucht geschlagen und wagten es danach nicht mehr, die Inseln nochmals anzugreifen. Belagerungen, Seeschlachten, das ganze Programm überstand der Orden für lange Zeit, aber dann kam Napoleon und 1798 war Schluss mit dem Ordensleben auf Malta. Der „Souveräne Malteserorden“ zog ab nach Rom und bildet bis heute ein Konstrukt, das ich bisher nur aus der Völkerrechtsvorlesung kannte: ein nichtstaatliches Völkerrechtssubjekt, eine Art eigener Staat, allerdings ohne Staatsgebiet. Trotzdem mit allem, was man sonst so braucht, Regierung, Botschafter, eigenes Autokennzeichen, eigene Pässe.

Wer sich auf die Spuren der Ritter auf Malta machen möchte, der sollte im Fort St. Angelo in Birgu anfangen. Hier war 1530 der erste Sitz des Großmeisters, hier gibt einem das Museum einen ersten Überblick. Tief eintauchen in die Geschichte der Ritter kann man dann im Gewölbe der Sacra Infermeria in Valletta und alles über die humanitäre Seite des Ordens erfahren. Und dann ab nach Victoria auf Gozo und rein in die von den Rittern befestigte Zitadelle.

Wer jetzt noch nicht rittersatt ist, für den hab ich da was. Ich suchte eine passende Urlaubslektüre über den Orden, so ein bisschen was zwischen Umberto Eco und Dan Brown schwebte mir vor. Ich stieß auf ein ganz aktuelles Buch, das den Machtkampf im Malteserorden 2017 beschreibt. Mit allergrößtem Vergnügen las ich das hervorragend recherchierte Sachbuch „Gefallene Ritter“ von Constantin Magnis – oder ist es doch eher eine Satire? Oder gar ein Krimi? Jedenfalls sehr empfehlenswert für einige vergnügliche Stunden und tiefe Einblicke in den Malteserorden, das englische Landleben, römische und vatikanische Skurrilitäten.

Ganz und gar nicht vergnüglich ist das, was die Deutschen im Zweiten Weltkrieg auf Malta und Gozo angerichtet haben. Das kleine Georgskreuz im oberen linken Eck der Flagge Maltas zeugt heute noch davon. Es wurde der Bevölkerung Maltas wegen ihrer außerordentlichen Tapferkeit im Zweiten Weltkrieg vom britischen König Georg VI. verliehen.

Wieder wurde Malta die strategische Lage im Mittelmeer und als Tor nach Afrika zum Verhängnis. Damals noch Kronkolonie und entsprechend britischer Marinestützpunkt gerieten die Inseln ins Visier der Achsenmächte Deutschland und Italien. Die ersten Luftangriffe der Italiener Mitte 1940 waren wenig erfolgreich, richtig schlimm wurde es, als die Deutschen den Luftkrieg Ende 1941 begannen. Malta wurde zum meistbombardierten Land der Welt. 3000 Bombenangriffe, 14.000 Tonnen Bomben, 35.000 zerstörte Häuser, hunderte Tote. Auf einer Fläche so groß wie München, das muss man sich dabei vor Augen führen.

Valletta 1942

Die Malteser retteten sich in Stollen, Keller und unterirdische Wasserspeicher, viele richteten sich wohnlich in den Katakomben ein, denn oft machte es gar keinen Sinn, den Bunker bis zum nächsten Angriff zu verlassen. Währenddessen wurden die Städte von den Deutschen in Schutt und Asche gelegt. In jeder maltesischen Stadt kann man heute noch Weltkriegsbunker besichtigen. In der riesigen Anlage in Birgu, die Teil des Malta-at-War-Museums ist, laufe ich durch die unterirdischen Gänge mit vielen privaten kleinen Höhlen, in denen ganze Familien wohnen mussten. In den Katakomben von Rabat fand die Bevölkerung Unterschlupf in alten Grabanlagen, vor der großen Kirche in Mosta kann man den Bunker besichtigen und auch die Führung durch das reizende Casa Rocca Piccola in Valletta endet im Familienbunker. 

Die schönen alten Städte, ein riesiges Ruinenfeld. Eine tapfere, aber traumatisierte Bevölkerung. Malta begann rasch mit dem Wiederaufbau und er ist gelungen. Die Briten stellten 30 Millionen Pfund hierfür zur Verfügung. Über eine deutsche Wiedergutmachung konnte ich nichts finden. Unfassbar, wo Deutschland überall seine zerstörerischen Spuren hinterlassen hat. 

Wundervolles Gozo

Die Republik Malta besteht aus insgesamt drei bewohnten Inseln, wobei es auf Comino, der kleinsten, gerade mal drei dauerhafte Einwohner sein sollen. Auf Gozo nördlich von Malta ticken die Uhren anders, lese ich, es sei ländlich, wenig Verkehr und sehr geruhsam. Also hin da!

Mit dem Bus zur Anlegestelle in Cirkewwa dauert es eine Dreiviertelstunde, die Fähre wartet schon und nach einer knappen halben Stunde komme ich in Mgarr, dem Hafen von Gozo, an. Auch dort wartet schon der Bus, klappt ja alles wie geschmiert. Aber dann kommen mir kurz Zweifel am ländlichen Idyll. Der Bus steht im Stau, schleichend geht es voran, kurz vor der Hauptstadt Victoria kriecht er nur noch, Autos über Autos. Auch durch Victoria selber quält sich der Verkehr. Ich steige erst mal aus und genehmige mir eine Steak and Ale-Pie. Was das wohl wird?

Das Paradies, ich nehme es schon mal vorweg. Ich habe mir ein kleines Häuschen gemietet, mitten in der Altstadt von Gharb im Norden von Gozo. Quaint and quirky little farmhouse – uriges und schrulliges kleines Farmhaus – ist es beschrieben, und für die nächsten sechs Tage wird es meine kleine Oase. Hanne, die deutsche Vermieterin, treffe ich an der Kirche von Gharb, sie führt mich in eine kleine Gasse, zweimal um die Ecke und da, ganz am Ende, ein türkisfarbenes Holztor. Wir treten in einen kleinen schattigen Hof, unter einer üppigen Bougainvillea ein türkisfarbener Tisch mit Stühlen. Links geht es hinein ins Haus, Küche und Wohnzimmer, rechts führt eine Treppe nach oben, zwei Schlafzimmer und ein Bad. Alles wirkt so, als seien die Bewohner gerade nur mal zum einkaufen gefahren und so ist es auch fast: die Besitzerin wohnte bis vor kurzem noch hier, lebt jetzt aber wieder in Deutschland. Nichts wirkt neu und steril, das Bad ist in die Jahre gekommen, Vintage kann man eigentlich zu allem sagen, aber gerade dieses unperfekte macht es für mich perfekt! 

Die nächsten Tage vergehen nach dem gleichen Muster: früh aufwachen, ein Kaffee auf dem oberen Balkon, Frühstück im Innenhof, lesen und schreiben, bis die Sonne den Schatten verdrängt und dann mal los. Ich wandere gen Norden, gen Westen und Osten. Die kleinen Straßen sind so gut wie leer, die terrassenförmig angelegten Felder karg und trocken, der Sandstein formt wellenartige Skulpturen, überbordende Kakteen voller Kaktusfeigen und sattgrüne Kapernsträucher bilden die einzigen Farbtupfer in der steinigen Landschaft. Aber auch das ist perfekt.

Und dann die Küste. Riesige Klippen und tiefblaues Wasser. An einigen Stellen begegnet man den motorisierten Touristen, kleine Mietwagen, Motorräder und diese unsäglichen Quads, auf denen sich die Mitglieder der Spaßgesellschaft stark und cool fühlen, obwohl sie einfach nur so aussehen, als würden sie mit einem Rasenmäher durch die Landschaft pflügen. Was ihnen in jedem Fall entgeht, sind die kleinen Wanderwege rechts und links der Touri-Spots. Ganz schnell ist man wieder allein mit der grandiosen Natur, dem wilden Meer und den gigantischen Aussichten.

Das Laufen ist nicht ganz ohne, Schatten gibt es kaum, es geht über Stock und über viel Stein, den Weg kann man nicht immer erkennen. Überall stehen die kleinen Verschläge der Vogeljäger – und häufig lugt eine Flinte heraus. Die vielen Patronenhülsen auf dem Boden zeigen mir, dass sie es Ernst meinen, aber zum Glück ist meine Ähnlichkeit mit einer Turteltaube nicht so ausgeprägt.

Der Beitritt Maltas zur EU hätte ein Segen für Zug- und einheimische Vögel sein können. Die bis dahin erlaubte Jagd wurde offiziell illegal, aber die Lust am Vogelmord hält sich leider hartnäckig. Durch Ausnahmegenehmigungen unter Hinweis auf die Tradition macht sich der Staat mitschuldig. Meine Wirtin in Mosta hatte sehr schmerzhaft das Gesicht verzogen, als ich sie nach der vielen Munition auf dem Boden fragte. „It’s horrible“, klagte sie. Es habe sogar schon eine Volksabstimmung dazu gegeben, die sehr knapp verloren wurde. Ein Schatten über dem Paradies.

An diesen wildromantischen Küsten, dem tiefblauen Meer, den freundlich grüßenden Bauern kann man sich gar nicht vorstellen, dass die Menschen hier nicht im Einklang mit der Natur leben wollen. Gozos Landschaft gerade hier im Norden ist so schön, mein Dorf Gharb so perfekt idyllisch, mein kleines Häuschen wird jetzt regelmäßig auch noch von einer schmusigen Katze besucht, die morgens von der Mauer des Nachbarhauses zu mir hinunterspringt – besser geht es eigentlich nicht. Dann noch diese unfassbar leckeren Ravioli mit Kaninchenfüllung in Salbeibutter im Il-Kunvent, die nur durch gelegentliches Läuten der Dorfkirche unterbrochene absolute Stille nachts – hier könnte ich sehr lange bleiben. Ich kürze meine Valletta-Pläne und verlängere wenigstens für eine weitere Nacht. Meine Vermieterin Hanne setzt noch einen obendrauf – wir düsen in ihrem Cabriolet über die Insel, essen Spaghetti mit Meeresfrüchten am Hafen, laufen entlang der Südküste. Sie will nie mehr weg hier, lebt jetzt seit vier Jahren in Gozo – und macht mich wirklich nachdenklich, ob das nicht eine Überlegung wert wäre.

Gharb ist ein wundersamer Ort, nicht nur wunderschön, sondern auch Heimat von Wundern. Die Wallfahrtskirche Ta Pinu, gegenüber von Gharb, zeugt davon. Riesig, wie so viele Kirchen in Malta und Gozo. Auf dem Weg dorthin laufe ich an einem kleinen Museum vorbei, dem Wohnhaus von Karmni Grima. Ich vermute ein klassisches Heimatmuseum, aber Karmni ist der Grund für die 1932 geweihte Basilika. 1882 vernahm sie die Stimme der Mutter Gottes aus der Kapelle, die damals dort stand. Ihr Wohnhaus zeigt nicht nur ein typisches gozitanisches Farmhaus, sondern macht auch die besondere Verehrung, die Karmni bis heute auf der ganzen Insel erfährt, deutlich. 95% der Malteser sind katholisch, die Religion ist ein ganz essentieller Bestandteil des Alltagslebens und die große Zuneigung, mit der die freundliche Museumsbetreuerin von Karmni spricht, ist schon sehr berührend.
Die Basilika selber ist vor allem groß. In einem Nebenraum findet sich eine Sammlung von Danksagungen an den Wänden, Menschen haben Gipsbeine, Motorradhelme, Kinderkleidung geschickt und über die damit verbundenen Wohltaten berichtet –  das Bein heilte, der Kopf blieb beim Motorradunfall ganz, das Kind wuchs zum gesunden Jugendlichen heran.

Und zu Herzen geht mir auch, wie sehr die Dorfbewohner ihren früheren Nachbarn Frenc verehren. Eine Statue am Dorfplatz und ein winziges Museum an der Hauptstraße erinnern an den Mann mit dem lieben Grinsen. Der einfache Bauer , der Ende der 1960er Jahre starb, kurierte seine Mitbürger mit selbstgemachten Salben und geistigem Beistand. Gutes Karma in Gharb!

Vor einem Besuch in Victoria, der autoumbrausten Hauptstadt, schrecke ich noch etwas zurück. Aber nach sechs Tagen Landleben bin ich bereit, mal wieder etwas Trubel zu ertragen. Und miete mich in der Altstadt ein, in einem ganz reizenden kleinen Bed and Breakfast. Hier kommen die Autos nicht hin und ich bin in fünf Minuten an der riesigen Zitadelle, die über der Stadt thront. Wie schön, dass ich die Zeit habe, die Gassen und Mauern der Zitadelle bei Tag und auch nach Sonnenuntergang zu erkunden. Wieder so ein absolutes Gesamtkunstwerk, stimmungsvoll, mit Blicken über die ganze Insel bis hin nach Malta.

Einen Besuch wert ist die Kathedrale Mariä Himmelfahrt in der Zitadelle. Auf den maltesischen Inseln kommt man um den Katholizismus nicht drumrum, die Menschen sind sehr gläubig und die täglichen Andachten gut besucht. Die reich verzierten Kirchen sind ein schöner Ort der Einkehr, kühl und still im mediterranen Touristengewusel und die Verehrung, die die Menschen ihrer Religion entgegen bringen, ist hier besonders spürbar. Was ich allerdings nie so richtig verstehen werde, ist die Lust am Morbiden, die gerade katholische Kirchen zelebrieren. Aus der Ferne scheinbar eine ruhende Heilige, wird es bei näherem Hinsehen immer gruseliger: die Dame zeigt ihr knöchernes Innenleben.

Zur Stärkung kann man dann direkt in der Zitadelle bei Ta’Rikardu einkehren und den leckeren selbstgemachte Ziegenkäse genießen. Man darf sich nicht abschrecken lassen vom Dauerstau auf Victorias Hauptstraße, ein paar Schritte weiter, und man ist wieder mittendrin im entspannten gozitanischen Leben. 

Und dann ist sie vorbei, meine schöne Woche auf Gozo. Für den Rückweg wähle ich den neuen Katamaran „Gozo Fast Ferry“, der mich in einer dreiviertel Stunde direkt nach Valletta trägt. Als wir in den Grand Harbour einfahren, weicht der Abschiedsschmerz der Vorfreude. Valletta, ich komme!