Lettische Begegnungen

So viele Störche! In Rumänien bin ich noch extra in einen Ort gefahren, der für seine vielen Storchennester bekannt ist. Hier sind sie in jedem Dorf und einfach überall. Sie stolzieren auf den gerade gemähten Wiesen, stehen in ihren Nestern und fliegen majestätisch über die Felder. Das ländliche Litauen hat auch außerhalb der Wälder seinen großen Reiz. Ich schaue noch einem Storchenpaar hinterher, da steht plötzlich am Straßenrand ein großes blaues Schild: Latvija! Ich bin in Lettland, einfach so. Ach diese EU, schon toll.
Ich halte an und studiere erst mal intensiv die Geschwindigkeitsregeln. „Be careful in Latvia“, sagte mir der nette Mann beim Autoverleih in Vilnius, von da würden sie eine Menge Strafzettel bekommen. 50 innerorts und 90 außerhalb, auf unbefestigten Straßen 80. Ich sag’s gleich, meine Richtgeschwindigkeit in den nächsten Tagen werden die 80 sein, wobei man auf den Schotterpisten selten überhaupt schneller als 60 fahren kann. Meine erste lettische Begegnung ist die Dame an der nächsten Tankstelle. Ich fahre an die Säule, der Betrag vom Vorgänger leuchtet noch im Display, ich nehme den Zapfhahn, drücke ihn in den Tankstutzen, nichts passiert. Vielleicht muss man vorher zahlen, das war glaub ich in Amerika so. Also rein, ich zeige auf mein Auto, zucke die Schultern und die Dame übergießt mich mit einem Schwall empört klingender Worte. Öh? Dann geh ich halt wieder. Draußen versuche ich es noch mal und plötzlich fließt das Benzin. Gut, das wäre dann geschafft. Aber was hat die Gute nur so aufgeregt?
Ich fahre weiter Richtung Madona. Ein vollkommen uninteressanter Ort, sagt mein Reiseführer. Aber jetzt beginnt der genealogische Teil meiner Reise. Ich will sehen, wo mein Großonkel Ernst Krüger 1944 im Alter von 21 Jahren gefallen ist.
Ernst Krüger war der jüngste Bruder meiner Großmutter Meta. Als er 1923 in Pommern auf die Welt kam, war Meta schon 23 Jahre alt und hatte eine zweijährige Tochter. Die war damit älter als ihr eigener Onkel und vielleicht sind sie sogar zusammen groß geworden, im kleinen Schivelbein. Wann Ernst Soldat wurde, weiß ich nicht. Vom Volksbund deutscher Kriegsgräberfürsorge bekam ich vor Jahren die Auskunft, Ernst sei im August 1944 gefallen, und in der Dorfmitte von Kurtsalas, fünf Kilometer westlich von Madona, Lettland beerdigt. Schon damals war mir klar, dass ich irgendwann dort hin fahren würde.
Nach einigen Kilometern über unbefestigte Straßen komme ich in Kurtsalas an. Der Ort besteht aus drei Häusern und einer Scheune. Ich steige aus dem Auto und schaue mich ein wenig um, da kommt eine alte Frau aus ihrem Haus, vielleicht so um die 70. Sie guckt mich fragend an und ich strecke ihre mein Handy entgegen, mit Google Translate hatte ich den Satz „Ich suche ein Grab aus dem 2. Weltkrieg“ ins lettische übersetzen lassen. Sie schaut mich an, nickt und geht mit mir um das Haus in ihren Garten. Unter einem Baum bleibt sie stehen und deutet auf die Erde. Ich habe sie leider nicht verstanden, ich spreche kein Wort lettisch und sie vielleicht 10 Worte Englisch. 1944, sagt sie. Ja, sage ich und tippe ins Handy „Bruder meiner Großmutter“. Sie spricht weiter, hätte ich das nur alles verstehen können. Ich mache ein paar Photos und wir gehen wieder. Zum Abschied umarmt sie mich und winkt mir noch lange hinterher.
Was für ein Erlebnis. Was hätte meine Großmutter dazu gesagt? Ist es wirklich Ernst, der unter dem Baum vergraben liegt? Soll ich noch mal hin und aufnehmen, was die alte Frau sagt und das Ganze in Deutschland übersetzen lassen? Nein, dieser Moment war zu einzigartig, ich will jetzt glauben, dass der kleine Bruder meiner Omi an diesem friedlichen Ort in einem schrecklichen Krieg seine letzte Ruhe gefunden hat.
Am nächsten Tag ist Rundale mein Ziel. Ein schönes Schloss, steht im Reiseführer, und ich will eigentlich an die Ostsee, aber das ist ein Stückchen und ich mache lieber einen Zwischenstopp. Eigentlich sind es nur zwei Stunden von Madona nach Rundale, sagt das Navi. Wenn man 80 fährt auf unbefestigten Straßen. In Koknese mache ich eine Pause, eine idyllische Burgruine an einem See gelegen. Die Damen im Ticketoffice sind extrem nett, freuen sich über Besuch aus Deutschland und könnten es mit ihren weißblonden Haaren und langen Kleidern auf die Titelseite eines jeden Schweden-Reiseführers schaffen. Die Ruine ist stimmungsvoll, erinnert ein wenig an Irland, und der Wald nebenan ein netter Ort für einen kurzen Spaziergang. Jetzt aber weiter. Bald ist es mit den geteerten Straßen vorbei. Das Navi lotst mich auf eine Schotterpiste. Kann ja so lange nicht dauern, oder? Ein kurzer Blick, bitte 37 km geradeaus. Auf dieser Straße? Es werden letztendlich über 60 km auf der Piste, mal ein ganz kurzes geteertes Stück, wenn man durch ein Dorf kommt, aber nicht zu früh gefreut, rums, da ist es schon wieder vorbei mit dem Asphalt.
Ich komme am frühen Nachmittag in Rundale an und miete mich im Hotel gegenüber ein. Und dann auf ins Schloss. Und das ist mehr als einen Zwischenstopp wert. Von außen zunächst noch etwas unspektakulär, zumal wenn man ein paar Jahre in einem Schloss gearbeitet hat. Aber dann innen! Jeder Raum, jeder Saal ist farblich und stilistisch anders gestaltet. Dabei wirken die Zimmer manchmal richtig gemütlich. Vom Schlafgemach sehe ich auf den Garten hinaus, eine riesige Parkanlage. Rundale wird auch das Versailles des Baltikums genannt. Ich war noch nie in Versailles, also kann ich es nicht beurteilen, aber das ist schon ziemlich schön und mitten in der lettischen Pampa. Ich streife zwei Stunden durch die Parkanlage, hinter hohen Hecken finden sich verwunschene grüne Oasen, viele Familien sind an diesem Sonntag hierher gekommen und picknicken. Sehr hübsch hier!
Und dann weiter Richtung Ostsee. Ganz nach oben, wo sich am Kap Kolka Ostsee und Rigaer Bucht treffen. Wieder ein Nationalpark, wieder im Wald, aber mich kann ja langsam kein Holperweg mehr schockieren und der Fiesta trägt es mit Fassung. Für 29 Euro bekomme ich ein Holzhäuschen ganz für mich allein, unten Küche, Bad und Wohnzimmer, über eine Leiter gehts nach oben zu den Betten. Die Fahrt war lang, ich habe fünf Stunden gebraucht für die 250 Kilometer mit nur einem kurzen Essensstopp.
Der kleine Ort an der livländischen Ostseeküste ist jetzt genau das richtige. Ein kleiner Waldspaziergang, dann stehe ich am menschenleeren Ostseestrand, laufe erst nach links, dann nach rechts, suche mir ein Plätzchen in den Dünen. Das Licht ist toll, es ist schon halb neun, aber die Sonne steht noch hoch. Auch am nächsten Tag gehört mir der Strand allein. Ein kleiner Ausflug zum Kap, hier begegnet man schon mehreren Menschen, aber es wirkt trotzdem sehr einsam. Auf der Düne über dem Kap die Ruinen einer sowjetischen Militäranlage. Zu Sowjetzeiten war die gesamte Küste militärisches Sperrgebiet, schlecht für die Letten, gut für die Natur. Ein Stückchen weiter sehe ich mehrere große Holztonnen auf der Düne. Beim Näherkommen wird klar: das sind kleine Zimmer. Toll gemacht, die zum Meer gewandte Seite ist komplett aus Glas, was für ein Blick direkt aus dem Bett. Hätte ich nicht mein kleines Häuschen, hier würde ich gerne für eine Nacht einziehen.
Am Abend falle ich um neun ins Bett. Die Meerluft, die lange Wanderung am Strand – und schließlich ist ja Urlaub!

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