In Wurmloch durch die Zeit

Dass es so viel zu sehen geben würde in Rumänien, hatte ich nicht erwartet. Zwei Wochen mit dem treuen Polo, der tapfer jedem Feldweg und jeder holprigen ungeteerten Straße getrotzt hat, sind jetzt vorbei. Von den rund 150 Kirchenburgen habe ich vielleicht gerade mal zehn angeschaut und jede war auf ihre Art phantastisch. In Biertan habe ich sogar zwei Nächte verbracht, weil ich mich an der riesigen auf einem Hügel gelegenen Kirchenburg und dem wunderschönen Blick über den kleinen Ort nicht sattsehen konnte. Die Anlage ist über 600 Jahre alt, in einem der Türme befinden sich Fresken aus dem 14. Jahrhundert, bis auf ein rostiges Gitter sind sie in keiner Weise geschützt und es wird ein rumänisches Rätsel bleiben, warum trotzdem alles so gut erhalten bleibt. In der Kirche befindet sich eine Tür aus dem Jahr 1515, das filigrane Schloss hat einen komplizierten Mechanismus mit 19 Riegeln und die Tür ist weit gereist: sie wurde auf der Weltausstellung 1889 in Paris präsentiert und ich stelle mir vor, wie Gustave Eiffel oder Gottlieb Daimler sie bestaunt haben mögen.

Rund um Biertan läuft die Heuernte und hochbeladene Pferdewagen bummeln durch die Dorfstraßen. Das ist alles so unfassbar idyllisch, die große Burg, die historischen Häuser, die alten Männer, die vor der Dorfkneipe sitzen. Das ist der Zauber Rumäniens, wer sich in alte Zeiten zurückversetzen möchte, der ist hier genau an der richtigen Stelle. Ich fühle mich unweigerlich an meine Kindheit erinnert und starre verzückt auf die zwei Männer, die mit langen Heugabeln einen Karren beladen, während das rotgeschmückte Pferd davor hingebungsvoll grast. Aber Moment mal, ich bin weder auf dem Land aufgewachsen noch glaube ich, dass in den 60ern in Stuttgart oder Hamburg noch Pferdekarren zum Einsatz kamen. Woran meine ich denn, mich hier zu erinnern? Ich glaube, es sind eher die Bücher meiner Kindheit, die hier wiederauferstehen. Könnte Försters Pucki nicht jeden Moment um die Ecke kommen? Lasse und Bosse aus Bullerbü oben auf dem Heuwagen mitfahren? Krabat aus der Mühle hervorlugen?
Am Abend sitzt eine rumäniendeutsche Familie am Tisch neben mir. Sie müssten so zwischen 40 und 50 sein, haben ihren Sohn dabei, der vielleicht 10 Jahre alt ist. Der Mann telefoniert mit seiner Mutter in Deutschland und berichtet davon, dass sie am Tag zuvor ihr altes Haus bei Wurmloch besucht, es aber in schlechtem Zustand vorgefunden haben. Irgendwann verfällt er in den siebenbürger Dialekt, sehr melodisch, fast französisch.
Am nächsten Tag besuche ich die Kirchenburg in Wurmloch, hatte der Mann gestern nicht auch von diesem Ort gesprochen? Wurmloch erinnert mich ja eher an Raumschiff Voyager und es passiert auch ähnliches: ich mache eine kleine Zeitreise, wieder mal. Als ich mich die ausgetretenen Steinstufen des Kirchturms hinauf taste, im Dachgebälk herum wandere bin ich wie so oft hier fassungslos. Die Kirche stammt aus dem 14. Jahrhundert. Mehr als 600 Jahre, in denen sich wahrscheinlich so gut wie nichts verändert hat. Wer hier schon alles rumgeklettert ist. Und ich mittendrin. Wahnsinn.
Ein „Sommersachse“ hat mir die Kirche aufgeschlossen, er ist 1989 von hier nach Paderborn ausgewandert, verbringt jedes Jahr einen Sommermonat in Wurmloch und kümmert sich dann um die Kirchenburg. Als wir in der Kirche stehen berichtet er, dass am Vormittag eine Familie da war, sich die Gesangsbücher genommen hat und vor dem Altar ein paar Lieder gesungen hat. Ein kleiner Junge sei dabei gewesen und sie seien sehr ergriffen gewesen. Die Familie vom Vortag.
Mich berührt das sehr. Ich frage den alten Mann, wie er mit dem Verlust der Heimat klar kommt, er winkt ab, er sei ja jedes Jahr wieder hier. Als er mir dann aber in dem kleinen Museum die Bilder der Dorffeste zeigt, scheint er sentimentaler zu werden. Den Ort kann er jedes Jahr besuchen, die Kultur ist aber untergegangen. Ob er gerne nach Deutschland gegangen sei, frage ich ihn, und er sagt „was hätte ich tun sollen, es waren ja schon fast alle weg.“
Die Siebenbürger Sachsen lebten 600 Jahre lang in Rumänien. Durch strikte Abgrenzung schafften sie es, ihre Kultur zu erhalten. Schon komisch, in Deutschland wird Integration um jeden Preise gepredigt, gleichzeitig haben sich Deutsche in vielen Ländern zwar vielleicht politisch und sozial integriert, sprachlich-kulturell aber ihre Eigenständigkeit bewahrt. Mit Verzückung schauen wir auf die Amish in den USA oder kleine Schwarzwalddörfchen in Venezuela, aber wehe jemand kommt auf die Idee, in Deutschland eine Moschee errichten zu wollen.
Der rumänische Staat war lange Zeit sehr tolerant, räumte den Deutschen diverse Privilegien ein, so durfte in den Schulen in deutsch unterrichtet werden. In der Hitler-Zeit bekannten sich viele aktiv zum Nationalsozialismus, freiwillig oder unfreiwillig, und nach dem zweiten Weltkrieg folgte die Strafe auf dem Fuße. Enteignungen und Deportationen fanden statt, fast 100.000 Rumäniendeutsche wurden in sowjetische Arbeitslager verschleppt und kehrten teilweise erst nach Jahren wieder zurück. Unter Ceaucescu litten sie als „deutsche Verräter“ besonders. Und dann kam der Diktator auf die Idee mit dem Menschenhandel. Über die genauen Summen wird spekuliert, bis zu 8000 DM sollen es pro Person gewesen sein. Der Diktator lästerte: „Erdöl, Deutsche und Juden sind Rumäniens wichtigste Exportartikel“, denn auch Israel zahlte für Ausreisegenehmigungen. In vielen Fällen ging es schlichtweg um Familienzusammenführung, denn viele Rumäniendeutsche hielten sich nach Kriegsende in Deutschland auf – als ehemalige Soldaten, Flüchtlinge oder Zwangsarbeiter, die von der Sowjetunion nicht nach Rumänien, sondern nach Deutschland zurückgeschickt wurden. Nach der Revolution 1989 gab es dann kein Halten mehr bei den restlichen Sachsen, der Großteil wanderte nach Deutschland aus. So wenig sie sich über Jahrhunderte in Rumänien integriert hatten, so schnell ging es dann in Deutschland.
Die Rumänen jedenfalls scheinen kein Problem mit der deutschen Vergangenheit vieler Orte zu haben, die Ortsschilder tragen häufig zwei oder gar drei Namen, rumänisch, deutsch und ungarisch. Die deutschen Gymnasien in Hermannstadt, Mediasch oder Kronstadt gelten als Eliteschulen und die sächsischen Kirchenburgen werden gerne auch von staunenden rumänischen Touristen besucht. Rumänien gilt als Beispiel für Toleranz gegenüber Minderheiten, 18 Ethnien sind als Minderheiten anerkannt, jede hat einen Sitz im Parlament und gesetzlich verankerte Rechte. Ob das im Alltag immer so ideal klappt, wie es sich in der Theorie anhört, bezweifle ich. Die ungarische Wirtin in Turda sagte zu mir, sie habe kaum Kontakt zu Rumänen, „they don’t like us“. Den Umgang mit den Roma kann ich schlecht beurteilen – mir ist so gar nicht klar, wer dazu gehört. Sind es die prächtig bunt gekleideten Frauen mit den langen Röcken und die Männer mit den großen schwarzen Hüten, die so sehr mein romantisches Bild von „Zigeunern“ bedienen? Und die sehr freundlich reagieren, wenn man ihnen zulächelt. Oder sind es die Bettler, die man selten, aber doch immer mal wieder sieht und die mich sehr an manche Szene in deutschen Fußgängerzonen erinnern? Mal sehen, ob ich das noch herausfinden werde.

Nach so viel Gekraxel in uralten Kirchtürmen beschließe ich jedenfalls, ein paar Tage stationär zu bleiben. In Hermannstadt trenne ich mich von dem braven Polo und setze mich in die Bahn Richtung Brasov, zu deutsch Kronstadt. Die Fahrt ist gemächlich, dreieinhalb Stunden für 160 Kilometer und dann stehe ich am Bahnhof von Brasov. Der Bus in die Stadt ist schon da, ich springe hinein und frage den Fahrer nach einem Ticket. Er deutet in Richtung eines Automaten und ich versuche ihm klar zu machen, er möge doch bitte auf mich warten und nicht mit meinem Koffer wegfahren. Macht er und er hilft mir sogar dabei, mein Ticket zu entwerten. So, jetzt kann nichts mehr schiefgehen, oder? Der Bus hat sich gefüllt und ist losgefahren, da steht plötzlich ein kleine energische Frau vor mir: Kartenkontrolle. Ich krame, wo hab ich dieses Ticket bloß hingetan? Nach einigem Suchen finde ich es endlich. Sie schüttelt den Kopf, nein, das sei ein falsches Ticket. Ich sage zu ihr auf englisch, der Busfahrer habe das aber akzeptiert, sie bleibt hartnäckig, es sei das falsche, und fängt schon an, die Straftickets aufzublättern. 50 Lei seien fällig. Ich deute erneut auf den Busfahrer, ihr Kollege spricht bereits mit ihm und berichtet ihr dann, dass der meine Geschichte bestätigt hat. Ist ihr egal, falsches Ticket, jetzt mal her mit den 50 Lei. Da hat sie aber nicht mit den anderen Passagieren, fast alles Frauen, gerechnet. Es bricht eine heftige Diskussion los, alle gemeinsam und gegen die Kontrolleuse. Eine junge Mutter vor mir übersetzt immer mal wieder für mich. Ich hätte ein Ticket für einen anderen Bus gelöst, das sei sogar teurer als das eigentlich Benötigte, ich solle mir keine Sorgen machen, das würden sie schon hinkriegen. Richtig Stimmung im Bus! Und tatsächlich, an der nächsten Haltestelle klappt die Kontroll-Lady ihr Büchlein zu, schnaubt kurz und steigt aus. Ich bedanke mich beim ganzen Bus, alle scheinen beglückt, sich durchgesetzt zu haben und ich steige beschwingt an der nächsten Station aus. Merci Brasov!
Noch ein paar hundert Meter, dann stehe ich vor meiner Unterkunft und bald auch drin. WOW! Mein Apartment befindet sich in einem Haus aus dem 18. Jahrhundert, riesig, super renoviert, mit uraltem Boden und Holztüren, stilvoll dekoriert, eine große Terrasse und eine eigene Kanone. Braucht man hier wahrscheinlich, denn Brasov wird regelmäßig von Bären heimgesucht. Wer jemals nach Brasov kommt und sich wie im Märchen fühlen möchte: ab ins Casa Veche!
Überhaupt ist Brasov der Ort, in dem man sich ständig in andere Welten versetzen kann. Sei es in den mittelalterlichen Gassen der Altstadt, in der großartigen Schwarzen Kirche mit ihren wunderschönen Zunftgestühlen und orientalischen Teppichen oder den vielen originellen Kneipen und Restaurants der Stadt. Im grandiosen „Festival 39“ fühlt man sich in die zwanziger Jahre zurückversetzt, im „Dr. Jekelius Pharmacy Café“ sitzt man in einer alten Apotheke und schlürft den Saft aus Labor-Messbechern. Ein kleiner Herbsteinbruch mitten im Sommer sorgt dafür, dass ich ausreichend Gelegenheit habe, stundenlang hier herumzusitzen, denn es regnet zwei Tage lang durch bei Temperaturen unter 15 Grad. Wenn schon schlechtes Wetter, dann lässt es sich hier noch am besten aushalten.
Ein sehr sehr schöner Ort, dieses Kronstadt. Dass es nach den vielen tollen Städten noch mal eine Steigerung geben würde, habe ich nicht erwartet. Auch wenn es die Heimatstadt von Peter Maffay ist :- Aber bald ist Schluss mit der Pracht. Denn ganz langsam muss ich mich mal um Dracula kümmern…..

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