Ein Haus in Pommern

Wir sind bereits seit zwei Wochen in Polen unterwegs, haben prachtvolle, gekonnt restaurierte Städte und Burgen, endlose Ostseestrände und pilzgesprenkelte Wälder erlebt. Wir haben wunderbar gegessen und mit leckerem Bier auf unser Glück mit dem strahlend spätsommerlichen Wetter angestoßen. Während in den meisten Nachbarstaaten Deutschlands die Corona-Zahlen aus dem Ruder laufen, scheinen wir mit Polen genau die richtige Entscheidung getroffen zu haben, zumindest im September 2020.

Auch im Slowinski-Nationalpark haben wir alles richtig gemacht. Wir wohnen nicht im geschäftigen Leba am östlichen Rand des Parks, sondern im winzigen Smoldzino. Und wenn die Matratze nicht so durchgelegen und die Kissen nicht so hart gewesen wären, hätten wir in dem Ferienhäuschen Pod Jesionem das Paradies gefunden. Wir empfehlen es trotzdem!

Mit einer Tasse Kaffee gehe ich nach einer unruhigen Nacht auf die schöne Dachterrasse. Der Morgendunst liegt über dem Dörfchen und den Feldern in der Ferne. Der Nachbar ist auch schon wach, bemerkt aber nicht, dass ich ihm von meinem Ausguck in den Hof schauen kann. Ein kleines altes Gehöft, ganz sicher aus der Zeit als Smoldzino noch Schmolsin hieß. Ein einfaches Wohnhaus, ein winziger Stall, vor dem Hühner im Gras picken. Der Nachbar läuft langsam und gebückt, ein alter Mann, der seine Tiere versorgt und es sich irgendwann auf der mittlerweile sonnenbeschienenen Holzbank gemütlich macht. Nicht viel anders wird es vor 100 Jahren gewesen sein, als meine Urgroßeltern drei Stunden westlich von hier in einem kleinen Dörfchen bei Schivelbein ihren Lebensabend genießen wollten. Lass uns nach Pribslaff fahren, sage ich zu meinem Mann.

Ein paar Tage später machen wir uns auf Richtung Swidwin. 2015 habe ich meine erste Reise hierher gemacht, versucht, mir in den Resten des alten Schivelbein vorzustellen, wie meine Großmutter, mein Vater und meine Tanten hier bis 1946 lebten. Und meine vielen anderen Verwandten, die Schivelbein über die Jahrhunderte treu blieben. Ich habe sie nie kennengelernt und erst durch meine Ahnenforschung herausgefunden, wie groß die Familien der Krügers und Henkes, der Beckers, Völz und Polzins hier eigentlich waren. Sichtbare Spuren sind keine geblieben, sie alle waren einfache Arbeiter und Bauern, und noch nicht einmal die Mittelstraße im Herzen Schivelbeins, in der meine Omi Meta lebte, ist noch erkennbar.

Keine drei Kilometer liegt das kleine Bauerndorf Stary Przybysław vor den Toren Swidwins. Als es in den dreißiger Jahren noch Pribslaff hieß, hatten die Kinder der Familie Krüger mitgeholfen, hier ein Haus zu bauen. Die Eltern – meine Urgroßeltern August und Albertine Krüger – sollten darin noch ein paar schöne Jahre verleben. August Krüger musste nach einem Leben schwerer Arbeit als Schweinemeister auf dem Gut von Cleve in Teschenbusch mit 61 Jahren in den Ruhestand gehen. Seine Gesundheit spielte nicht mehr mit. Im Herbst 1936 zogen er und seine Frau Albertine in ihr eigenes Haus, ein zweistöckiges Gebäude mit Stall und Schuppen, einem Gemüsegarten und einem Kartoffelacker, zusammen etwa 2500 qm. Im „Antrag auf Feststellung von Vertreibungs­schäden“ ist alles genau festgehalten. 1935 hatte August Krüger das Grundstück für 1000 Reichsmark erworben. Gebaut wurde ein Wohnhaus mit massivem Hartdach, 10 x 9 Meter, ein Stall, 12 x 6 Meter, ebenfalls mit massivem Hartdach und ein Schuppen, 7 x 4 m, mit einem Dach aus Brettern und Pappe. 3200 Reichsmark betrug die Hypothek bei der Kreissparkasse Belgard. August bekam 50 Reichsmark Rente, schrieb mein Großonkel Max, seine Frau Albertine 20 Reichsmark. Das reichte gerade für die Hypothek und zum Leben. Und Max schrieb weiter: „Soweit ich es beurteilen kann, war die Zeit von 1936 bis zum Kriege die schönste Zeit im Leben der Eltern.“ Drei Jahre also.

Albertine Krüger mit Max, Bruno, Meta, Willi und Grete

Die Söhne Bruno und Ernst, die Schwiegertochter Käthe und die kleine Enkelin Waltraud starben im Krieg. Nach der Besetzung Pribslaffs am 04.03.1945 kamen August und Albertine mit dem Leben davon, schreibt Max. 16 Bewohner des Ortes, darunter unmittelbare Nachbarn, starben durch „Mord und andere Greueltaten“. Der Schwiegersohn Otto Remus wurde verschleppt und kehrte nie mehr zurück, Tochter Grete flüchtete nach Berlin und erlag dort 1946 dem Fleckfieber. Die drei verbliebenen Kinder, darunter meine Großmutter Meta, wurden 1946 mit ihren Familien aus Schivelbein ausgewiesen.

Max beschreibt auch die letzten Tage von August. „Die Herzkrankheit des Vaters verschlimmerte sich immer mehr. Es war ein Herzasthma mit qäulendem Luftmangel verbunden. Weder ärztliche Betreuung noch Medikamente waren vorhanden. Die Kinder waren alle fort und die Eltern allein, krank und hilflos. Für das tägliche Brot musste gebettelt werden. Als Vater sein Ende nahen fühlte, bat er die Mutter, sie möge ihm einen Sarg bauen. Vater starb am 22.06.1946. Ein Bekannter hat aus dem Holz des Bettes einen Sarg gezimmert. Den letzten Weg zum Friedhof in Pribslaff legte Vater auf einem Handwagen zurück.“

Albertine Krüger wurde im Frühjahr 1947 siebzigjährig aus Pribslaff ausgewiesen. Auf abenteuerlichen Wegen schaffte sie es endlich zu ihren Kindern nach Ratzeburg. Sie starb dort 1956 mit fast 79 Jahren.

2015 war es schon später Nachmittag als ich von Swidwin nach Stary Przybysław fuhr. Ich hatte zwei Photos von dem Haus dabei, in den 40er Jahren aufgenommen. Und die Hausnummer 19 aus einem alten Einwohnerverzeichnis von Pribslaff. Es war aussichts–los. Das Dorf zog sich entlang einer nicht enden wollenden Straße, im Ortskern ein paar Backsteinhöfe, die Kirche schon lange abgerissen, der Friedhof eine verwilderte Wiese. Die Hausnummern hatten sich über die vielen Jahre verändert und auch von den damaligen Häusern schienen einige die Zeit nicht überstanden zu haben. Die Sonne ging langsam unter, es wurde kühl und ich beschloss, nach Swidwin zurückzufahren. Das Haus schien es nicht mehr zu geben. Am Dorfende, kurz vor dem Abzweig nach Swidwin wollte ich einen letzten Blick auf den Ort werfen, schaute nach links und hielt kurz die Luft an. Da stand es, ganz eindeutig, das Haus von August Krüger. Ich stieg aus. Wie konnte mir das Haus beim Herfahren entgangen sein? Da hat Dich Deine Omi kurz geschubst, sagte mein Mann später, und genau dieses Gefühl hatte ich in dem Moment.

Und jetzt also 2020. Auch in Stary Przybysław haben wir das gleiche Glück mit dem Wetter wie die zwei Wochen zuvor. Wir fahren erst in den Ort hinein, parken am Spielplatz in der Dorfmitte, wo früher die Kirche stand. Keine Kirche mehr, kein Laden, keine Gaststätte. Ein Trecker mit Kartoffeln biegt um die Ecke, sonst sind kaum Menschen zu sehen. Wer hier lebt, scheint sich nach Swidwin zu orientieren. Wir machen einen Spaziergang und merken dann doch, dass zwischen dem Verfall etwas Neues entsteht. Ein paar schmucke Neubauten, ein liebevoll restauriertes Häuschen am Weg zum Sportplatz, Kürbisse säumen die Straße dorthin.

Jetzt noch zu August Krügers Haus, sage ich. Wir setzen uns wieder ins Auto, fahren Richtung Swidwin und parken am Straßenrand gegenüber. Ein Mann spricht uns auf deutsch an. Was das denn für ein Kennzeichen sei, „DR“. Wir lachen, wissen wir auch nicht, das ist ein Mietwagen. Wir kommen ins Plaudern, er ist LKW-Fahrer und wohnt in Cloppenburg, hier genießt er das Landleben. Warum wir so auf das Haus gegenüber schauen? Das hat mein Urgroßvater gebaut, sage ich. Er ruft hinüber, da sind Leute, ich hatte sie gar nicht gesehen. Eine Frau kommt ans Tor, „August Krüger“, ruft sie, und mir läuft ein Schauer über den Rücken.

Wir gehen hinüber, der freundliche LKW-Fahrer übersetzt. Aus der Nähe sieht man, dass im Haus renoviert wird. Das rechte Fenster steht offen, eine frisch gestrichene weiße Zimmerwand leuchtet hinaus. Die Frau sprudelt los, sie hätten gerade den Holzboden entfernt, die Dielen lägen noch im Hof und auf einem der Bretter stünde „August Krüger Neu Pribslaff“. Sie bittet uns in den Innenhof, ein Stall, ein Schuppen, eine Wasserpumpe, Blumen. Da liegen die Bodendielen. Die Frau und ihr Mann suchen kurz, hier, das ist das Brett mit dem Namen drauf. Die Frau erzählt und erzählt, der LKW-Fahrer kommt kaum mit dem Übersetzen nach. Sie bittet mich ins Haus, entschuldigt sich für das Renovierungschaos. Trotzdem darf ich in jedes Zimmer. Die Kachelöfen und die Holztreppe nach oben sind noch genauso erhalten, wie sie 1936 gebaut wurden. Die Zimmer sind klein, aber gemütlich, das Haus ist von innen viel heimeliger als von außen. Ein richtiges Zuhause, für August und Albertine in den 30er Jahren, für die herzliche polnische Familie heute.

Wieder auf dem Hof versuchen wir, uns noch ein wenig zu unterhalten, aber außer „dzień dobre“- Guten Tag – und „dziękuję“ – danke – sprechen wir kein polnisch. Und der arme LKW-Fahrer ist ja eigentlich hier, um die Ruhe des Dorfes zu genießen. Also verabschieden wir uns, all das muss ich sowieso erst mal verdauen.

Hatte mich meine Omi 2015 geschubst, um das Haus zu entdecken, muss jetzt August Krüger selbst am Werk gewesen sein. Über achtzig Jahre liegen die Holzdielen im Haus und ein paar Tage bevor ich nach Pribslaff reise, werden sie herausgenommen und jemand entdeckt die Aufschrift. Und dann kommt zufällig noch ein Pole dazu, der sehr gut deutsch spricht. Ein kleines Zauberhäuschen. August und ich haben am selben Tag Geburtstag, er 1875, ich 1965. Vielleicht wollte er mich ja einfach einmal kennenlernen, wer weiß 🙂

Albertine Wilhelmine Auguste Krüger, geb. Becker * 18.03.1877 in Neu Pribslaff † 13.02.1956 in Ratzeburg August Ferdinand Eduard Krüger * 28.04.1875 in Seligsfelde † 22.0.1946 in Pribslaff

 

 

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