Luxus in Luxor

Da mögen die Sonne noch so strahlen, die bunten Fische im Roten Meer noch so locken – die eigentliche Attraktion des Landes ist seine Geschichte. Eine uralte, fast schon mystische Kultur, die grandiosen Überbleibsel der Pharaonenzeit – das ist der eigentliche Grund, warum ich das Land unbedingt sehen wollte. Ein guter Start für unsere Reise in die ferne Vergangenheit ist Luxor, wo einst das antike Theben lag und die Pharaonen lange Zeit ihren Regierungssitz hatten.

Der Tempel von Luxor

Wir haben einiges befürchtet, Touristenmassen, aufdringliche Bakschisch-Jäger, Kitsch und Beschiss an jeder Ecke. Und von allem gibt es zwar etwas, aber wir haben schon Schlimmeres erlebt. Luxor ist in allererster Linie toll und ein absolutes Traumziel!

Das antike Theben unterteilte sich in die Stadt der Lebenden östlich des Nils und die Stadt der Toten im Westen. Wir wohnen am Westufer, heutzutage überaus lebendig und durch den Fluss vom modernen Luxor getrennt. Ein Ort mit fast dörflicher Gemütlichkeit, spektakulärem Blick auf die Silhouette der Stadt und praktisch gelegen für einen Besuch der weltberühmten Begräbnisstätten im Tal der Könige. Mit der großen Fähre kann man für 20 Cent nach Luxor übersetzen, für das zehnfache bekommt man einen privaten Bootstrip hinüber. Und diese Edelversion muss man bis zur öffentlichen Fähre beständig abwehren, mal mehr, mal weniger penetrant. Aber die Ägypter haben Humor, lachen durchaus über ihre eigene Beharrlichkeit und scheinen es insgeheim ganz ok zu finden, wenn man sich gegen die touristischen Angebote entscheidet. 

Blick vom Westufer auf den Luxortempel

Unser erster Weg führt uns hinüber zu den Lebenden. Vom Fährterminal ist es kein Problem, in eines der vielen Sammeltaxis zu springen und zu einem Highlight zu fahren: die Tempelanlage von Karnak ist die größte Ägyptens. Auch wenn sich die Touristengruppen hier stapeln: der Magie von Karnak tut das kaum einen Abbruch.

Eine Allee ungewöhnlicher Sphinxen führt zum Tempel des Amun-Re. Verehrt wurde der König der Götter in seiner Urversion als Widder, also tragen auch seine Sphinxen Widderköpfe. Der Erhabenheit des größten Tempels Ägyptens können auch die photographierenden Massen wenig anhaben. Alles wirkt klein gegen diese vor viertausend Jahren begonnene Grandiosität. In der steinernen Säulenhalle kann man sich fast alleine fühlen, umgeben von goldenem Licht und kopfschüttelnd ob der Genialität der antiken Baumeister. Die Instagram-Generation wallt mit flatternden Gewändern durch die Gänge, bittet schon mal bestimmt um einen freien Hintergrund, denn nichts geht über die Illusion einer einsamen Erstentdeckung. 

Tempel von Karnak und Straße der Sphinxen

Die Straße der Sphinxen verbindet die Tempelanlagen von Karnak und Luxor. Zunächst die Widderköpfigen, später dann Sphinxen mit menschlichen Häuptern säumen die erst 2021 komplett freigelegte Straße. Uns treibt der Hunger auf einen Abstecher ins neuere Luxor. Im Oasis Palace Restaurant tauchen wir ins Ägypten der 20er Jahre ab und genießen die kleine Zeitreise zwischen antiken Möbeln und alten Bildern so lange, dass uns am Luxortempel bereits die Abenddämmerung erreicht. Aber wahrscheinlich ist die Anlage in der stimmungsvollen Beleuchtung noch schöner und beeindruckender als am Tag. Mauern, Säulen und Statuen werfen geheimnisvolle Schatten, die eingemeißelten Hieroglyphen haben eine besondere Tiefe und die Massen sind immer noch nicht müde geworden, sich die Pracht anzuschauen.

So viele Reisebusse, so viele Sprachen, so viele mal mehr, mal weniger interessierte Menschen. Eine Reisegruppe haben wir schon am Mittag in Karnak gesehen, sie sind originalgetreu im Stil der 20er gekleidet, die Herren im leichten Sommeranzug, die Damen in Kleidern mit tiefer Taille und Sonnenschirmchen. Jetzt in der Dämmerung in Luxor haben sie Abendgala angelegt und versammeln sich zum gemeinsamen Bild vor dem Eingang zum Tempel. Tolle Idee und jeder scheint mitzuspielen. Sicherlich sind sie im „Winter Palace“, dem historischen Kolonialhotel nebenan, abgestiegen und zelebrieren ihre Liebe zur Zeitreise.

Zeitreise in die 20er im Tempel von Karnak

Wir tuckern auf unsere Seite des Nil zurück, gönnen uns noch eine köstliche Suppe am Nilufer mit Blick auf das abendliche Luxor und fallen danach ins Bett.

Am nächsten Tag schwingen wir uns aufs Fahrrad und kurven durch das Straßenchaos in Richtung Wüste. Radeln klappt hier erstaunlich gut, die Gegend ist flach und der Fahrtwind angenehm. Zuckerrohrfelder, Eselkarren, dörfliche Idylle am Rande der Großstadt. Unglaublich ist, wie begeistert man auf dem Weg besonders von Kindern gegrüßt wird. Luxor ist das Top-Touristenziel in Ägypten, aber offensichtlich bekommen die Bewohner von den vielen Besuchern nur sehr wenig mit – raus aus dem Hotel, rein in den Touribus, raus für einen schnellen Tempelbesuch und wieder zurück ins klimagekühlte Fahrzeug. 

Mit dem Rad zum Tal der Könige

Unser erster Stopp sind die Memnonkolosse. Fast 20 Meter hoch thronen die 3600 Jahre alten und mittlerweile gesichtlosen Statuen neben der modernen Hauptstraße. Beide wurden ursprünglich aus einem einzigen Stein gehauen – und zwar in Kairo, 700 Kilometer entfernt. Auf ca. 700 Tonnen wird das Gewicht jedes einzelnen Kolosses geschätzt, schon diese Transportleistung ist unfassbar.

Die Memnonkolosse

Richtiggehend modern wirkt unser nächstes Ziel: der Totentempel der Hatschepsut, der sich an die Felsen des beginnenden Gebirges schmiegt und dessen jahrtausendealte Architektur fast modern wirkt. Das hat er mit der Frau gemein, zu deren Ehren er errichtet wurde: Hatschepsut war die erste Pharaonin. Ganz stand sie nicht zu ihrer Weiblichkeit und entwickelte sich über die Jahre zu „Pharao Maatkare“ – „genderqueer“ augenzwinkert der Reiseführer. Der Tempel erlangte 1997 traurige Berühmtheit, als hier 62 Menschen, überwiegend Touristen, grausam von islamistischen Terroristen ermordet wurden. Um unsere Sicherheit haben wir uns bisher keine Sorgen gemacht, Polizei und Militär sind präsent und je besser das Hotel, desto intensiver wird unser vorfahrendes Taxi gefilzt. Aber natürlich, ein Restrisiko bleibt.

Wir radeln weiter zu einem weniger besuchten Tempel, der uns aber ganz in seinen Bann zieht: der Tempel des Habu. Kaum Touristen, in einer dörflichen Umgebung, warmes Abendlicht, entspannte Atmosphäre. Das gegenüberliegende Restaurant Maratonga ist ein guter Ort für eine Pause und ein freundliches Gespräch – die Eigentümerin ist in Lüneburg geboren, hat auch mal in Balingen gelebt und ist sehr kommunikativ.

Habu-Tempel

Kann’s noch besser werden? Ja klar! Der nächste Tag gehört dem Tal der Könige. Nicht unanstrengend ist die leicht ansteigende Straße durch die Wüste, rechts und links von hohen Felsen gesäumt. Aber jeder Schweißtropfen lohnt sich für das, was weiter hinten im Tal auf uns wartet. Unscheinbare Öffnungen entlang der Felsen, erstaunlich wenige Menschen ziehen von Eingang zu Eingang. Drei Gräber sind im Ticket enthalten, wir folgen den Empfehlungen aus dem Reiseführer und treten ein in die letzten Ruhestätten der Pharaonen. Die Pracht der uralten Dekorationen ist atemberaubend. Die Wände der langen Gänge sind über und über mit Hieroglyphen und leuchtenden Darstellungen der dies- und jenseitigen Welt verziert. Mal führt der Weg kerzengerade und fast eben zur Grabkammer, mal windet er sich oder klettert mehrere Stufen hinab. Aber immer ist es absolut grandios. So wunderbar, so filigran, wie war das vor mehr als 3000 Jahren nur möglich? Wir kosten vor allem das Doppelgrab von Ramses dem 5. und 6. aus. Das muss extra gezahlt werden, was viele Reisegruppen fernhält. Hier gehören die Pharaonen uns!

Tal der Könige

Tal der Könige

Fast ganz allein ist man dann bei den Gräbern der Noblen. Keine Herrscher liegen hier begraben, sondern überwiegend Beamte – so ist’s richtig 🙂 Auch hier finden sich wunderbare Wandbemalungen, nur zeigen diese vorwiegend Alltagsszenen. Viel dreht sich um gutes Essen, Brot, Geflügel, Früchte, Fisch – schien ganz abwechslungsreich zugegangen zu sein im alten Ägypten. Am meisten beeindruckt das Grab des Sennefer, des Bürgermeisters von Theben – am Ende einer sehr steilen, dusteren Treppe in die Tiefe wartet eine Überraschung – grandiose Deckenbemalungen, wie wir sie in keinem anderen der Gräber gesehen haben.Gräber der Noblen

Es hätte noch so viel zu sehen gehabt, in Luxor. Aber unser Anspruch ist gar nicht, alles zu besuchen. Lieber leisten wir uns den Luxus, die Schönheit mit viel Zeit und Muße zu genießen, ruhig mal eine Stunde in einem der Gräber zu verweilen und nicht dem Ehrgeiz zu erliegen, möglichst viele Sehenswürdigkeiten abzuhaken. Und den Luxus, die unfassbaren Schönheiten ohne Guide einfach nur zu genießen. Dritte oder 12. Dynastie, das ist mir ehrlich gesagt erst mal egal. Hintergrundwissen kann ich mir zuhause anlesen. Denn irgendwie habe ich das Gefühl, dass das nicht mein letzter Besuch war, in diesem grandiosen Ägypten.

Alles mit drin – unser ägyptisches All Inclusive Experiment

Wir haben in Venezuela am Ufer des Orinoco in einer Indianerhütte übernachtet, unter freiem Sternenhimmel in der Wüste Rajasthans, haben unsere Zelte aufgeschlagen in den Weiten Western Australias und der Painted Desert in den USA, haben in kolonialen Traumhotels Asiens genächtigt. Aber noch nie haben wir uns in ein All Inclusive Ressort gewagt. Bis jetzt.

Corona hat uns die schönen Ecken Europas gezeigt. Polen, Malta, Sizilien, Litauen – was für wunderbare Länder, die jede Reiseminute wert waren. Aber trotzdem standen wir immer wieder sehnsüchtig vor der Weltkarte, blickten wehmütig auf die roten Nadeln, die wir in Usbekistan gepinnt hatten – unsere letzte außereuropäische Reise vor Corona. 

Und jetzt – viermal geimpft und einmal genesen, dauerhaft oder temporär von der Arbeit befreit: Welt, wir können wiederkommen! 

Australien? Zu gerne, aber die Mietwagenpreise haben sich noch nicht erholt von Corona. Asien? Wir lieben es, aber vieles kennen wir eben auch schon. Südamerika? Lange oben auf unserer Liste. Aber was ist eigentlich mit Afrika? 

Wir erinnern uns noch gut an die Wochen vor unserer Weltreise 2015. Es waren die stressigsten Tage, die wir je hatten. Es nahm und nahm kein Ende mit den notwendigen Erledigungen. Zumindest Erics To-do-Liste ist diesmal wieder furchterregend umfangreich und deswegen – kein Reisestress am Anfang. Ein Direktflug von Stuttgart, möglichst nicht zu lang. Die ersten Tage um nichts kümmern müssen. Ausspannen. Wärme. Und vielleicht ein Meer vor der Nase.

Ägypten liegt in Afrika und Hurghada erfüllt alle Kriterien. Also auf, wir tun es! Und wenn schon klassisches Badeziel, dann doch gleich richtig: All inclusive.

Vier Tage sind wir in eine Welt eingetaucht, zu der wir nicht gehören. Ein spannendes Erlebnis. Aber es wird wohl auch ein einmaliges bleiben.

Dabei kriegt man hier durchaus was geboten: ein großes komfortables Zimmer mit Balkon und vollem Meerblick. Ein freundlicher Roomservice, der auch mal mit einem Teller Süßigkeiten überrascht. Reichhaltige Buffets mit leckerem Essen. Eine riesige strahlendblaue Poolanlage, blitzesauber und fast zur Alleinnutzung. Ein eigener Strandabschnitt mit Riff und bunten Fischen. Was gibt’s da also zu Nörgeln?

Die Pool-Landschaft im Prima Life Ressort, Makadi Bay

Eine künstliche Welt fernab des Landes, in dem wir uns befinden. Ein routinierter Betrieb, der die Massen im Wochentakt durch den ewig gleichen Tagesablauf schleust. Ein luxuriöses Ghettodasein, das auch uns nach kurzer Zeit einlullt in den Rhythmus von Schlafen, Essen und Sonnenbaden. Verführerisch bequem, sehr erholsam, aber auch sehr weit weg von dem, was wir so lieben am Reisen.

Der Tag im All-Inclusive Paradies beginnt früh – die einzige wirkliche Herausforderung besteht darin, einen Platz in der vordersten Reihe der Strandliegen zu bekommen. Denn alles andere gibt es hier kampflos und im Überfluss. Von unserem Balkon haben wir freien Blick auf das Spektakel. Energisch marschieren Männlein wie Weiblein jeden Alters und jeder Nationalität schon ab sechs Uhr morgens in Richtung der begehrten Logenplätze und markieren ihr Territorium für den anbrechenden Sonnentag. Einmal eingenommen, werden die gekaperten Liegen nur noch zum Essenfassen verlassen. Und das sieht man einem Großteil der Gäste an. Nicht umsonst sind die Zimmer mit Waagen ausgestattet, um die auch wir einen eleganten Bogen machen. 

Stimmungsvoll beleuchteter Pool in Makadi Bay, Ägypten

Auf der Suche nach Ruhe und Einsamkeit sollte man in einem solchen Ressort nicht sein – zur All-Inclusive-guten-Laune gehört Musik. An jeder Bar schallt ein anderer Beat. Dazu das Dröhnen der Klimaanlagen, die die Wüste kühlen und das geschäftige Werkeln, um die Grünanlagen makellos zu halten. Und da unsere Anlage nicht die einzige in der Bucht ist, liegt ein steter Soundteppich über der ganzen Gegend.

Abendshow im All Inclusive Ressort

Strand und ein aquariumsgleiches Meer scheinen nicht auszureichen für das perfekte Urlaubsvergnügen. Eine Schar gutgelaunter Animateure müht sich redlich mit allerlei Sportlichem, Tanzerei und Smalltalk, keine Minute Langeweile aufkommen zu lassen. Ist die Sonne verschwunden und das letzte Essen des Tages verspeist, bleibt sich der Gast nicht selbst überlassen – Shows mit hämmernder Musik, Bauchtänzerinnen, Fakiren und allerlei anderen Kostümierten pumpen gute Laune in den zu Ende gehenden Ferientag. Alternativen gibt es allerdings auch keine – Makadi Bay ist kein Ort, sondern nur eine sandige Straße, von der die Ressorts abgehen. 

Die Stimmung ist insgesamt heiter. Obwohl auch der Alkohol umsonst fließt, geht es erstaunlich gesittet zu. Dass Badeurlaub am Roten Meer bei Russen mit einer etwas anderen Auffassung von Spaß besonders beliebt ist, hatten wir vorher gelesen. Aber entweder sind hier nur Ukrainer und Polen – die Sprachen können wir einfach nicht auseinanderhalten – oder die Russen versuchen aus  guten Gründen, unauffällig zu bleiben. Schillernde Typen sind in jedem Fall dabei: eine wilde Hardrockfamilie mit einer deutlich sichtbaren Vorliebe für große Mengen Essen. Gestylte Instagramerinnen, die schnellen Schrittes durch die Anlage eilen auf der Suche nach dem perfekten Hintergrund für ihren nächsten Post. Ganzkörpertätowierte, die auch das Gesicht nicht ausgelassen haben und denen man nur wünschen kann, dass die Laserentfernungstechnologie in ein paar Jahren weit fortgeschritten sein wird. Dieses bunte Gemisch gepaart mit reichlich Weihnachtsdekoration unter Palmen und bei hochsommerlichen Temperaturen trägt bei zu einem leichten Gefühl von Surrealität.

Unser Hotel ist in den entsprechenden Portalen grandios bewertet. Es gibt also viele Menschen, die es so und nicht anders haben wollen. Und da die Geschmäcker nun mal verschieden sind und wir den Erholungswert durchaus sehen, maßen wir uns nicht an, diese Art des Urlaubs zu kritisieren. Aber natürlich fragen wir uns, wie man in ein geschichtlich und kulturell so faszinierendes Land wie Ägypten reisen kann, um dann den allergrößten Teil seiner Zeit abgeschottet von genau diesem Land zu verbringen.

Gute Laune all inclusive in Makadi Bay, Ägypten

Wir sind um eine Erfahrung reicher. Und wollen gar nicht ausschließen, eines Tages mal wieder in einem solchen Ressort zu entspannen. Unsere Reise wird allerdings erst morgen wirklich beginnen, wenn wir aufbrechen Richtung Luxor. Eric ist kein Ägypten-Beginner, vor mehr als 30 Jahren ist er mehrmals durch das Land gereist und hat erlebt, dass es neben all der Schönheit auch sehr anstrengend sein kann. Nach dem, was wir gelesen haben, hat sich das eher intensiviert, Bakschisch-Forderer all über all. Vielleicht sehnen wir uns dann ja sogar zurück nach dem Rundum-Sorglos-Paket. Aber sicherlich nicht richtig lange 🙂

Noch mehr Polen

Eigentlich sollte es nur ein Rückweg sein, vom schönen Litauen ins heimische Schwabenland. Aber Polen hat so viel zu bieten, da dauerte die Fahrt nach Deutschland schließlich doch fast drei Wochen.

Den ersten Stopp lege ich in Białystok ein. In die östlichste Großstadt Polens, 50 Kilometer von der belarussischen Grenze entfernt, verirren sich nur wenige deutsche Touristen. Starke Zerstörungen im 2. Weltkrieg, Industriezentrum, ich erwarte nicht allzu viel. Doch der erste Gang durch das frühabendliche Stadtzentrum belehrt mich ganz schnell eines Besseren:  ein heiterer Sommerabend, viel Grün rund um die Altstadt, der stimmungsvoll beleuchtete Branicki-Palast, eine fast mediterrane Atmosphäre in der breiten Fußgängerzone. Auf dem Marktplatz rund um das barocke Rathaus tobt das Leben, ein Straßenrestaurant reiht sich ans nächste, eine sprudelnd lebendige Atmosphäre. So fast schon italienisch hätte ich mir Polens fernen Osten nicht vorgestellt.

Białystok
Branicki-Palast, St. Rochus Kirche und Innenstadt von Białystok
Ludwik Zamenhof
Am Geburtshaus von Ludwik Zamenhof

Die Grenzlage prägte Białystok über die Jahrhunderte – Polen, Russen, Belarussen und Deutsche bevölkerten die Stadt im Laufe ihrer Geschichte. Anfang des 20. Jahrhunderts waren 70% der Bevölkerung Juden. Durch die Straßen schwirrten Jiddisch, Polnisch, Russisch und Deutsch. Der perfekte Nährboden für den revolutionären Versuch, eine Weltsprache zu etablieren. 1887 begründete Ludwik Zamenhof in Białystok die Plansprache Esperanto. Seinen Spuren begegnet man noch heute an vielen Ecken der Stadt.

Ein Muss ist der Besuch des Branicki-Palasts, unübersehbar am Rande der Altstadt gelegen. Die barocke Pracht geht auf das 17. Jahrhundert zurück. Kaum zu glauben, dass die gesamte Anlage 1944 zerstört und bis 1960 wieder aufgebaut wurde. Heute ist hier die medizinische Universität untergebracht. Besonders schön wandelt es sich in der barocken Gartenanlage hinter dem Palast.

Lohnen tut sich der Aufstieg zur weithin sichtbaren modernistischen St. Rochus Kirche im Westen der Innenstadt. 1927 begonnen konnte der Bau erst 1946 fertiggestellt werden – zwischenzeitlich wollten die Russen sie auch mal für einen Zirkus nutzen. Aber der Katholizismus siegt in Polen irgendwie immer.

Ganz und gar unerwartet und sehr spannend ist die Street Art in Białystok. Mehr als 30 Wandgemälde sind über die Innenstadt verstreut und viele findet man nur mit einer Karte, die es auch interaktiv gibt. Nicht nur das „Mädchen mit der Gießkanne“ zaubert einem ein Lächeln ins Gesicht.

Street Art Białystok
Street Art in Białystok

Sehr empfehlenswert ist das gerade mal ein Jahr alte Sybir Memorial Museum, das den nach Sibirien Verschleppten gewidmet und einmalig in Polen wenn nicht sogar weltweit ist. Man sollte Zeit mitbringen, um in die Geschichte dieser Deportationen, die bereits im 16. Jahrhundert begannen, einzutauchen. Wenig wusste ich bisher über die Verschleppungen, denen Millionen von Polen zum Opfer fielen. Viele Erläuterungen oder gar politische Interpretationen braucht es nicht – das Grauen spricht für sich.

Sybir Memoriał Museum Białystok
Das Sybir Memoriał Museum in Białystok: hier begannen die Verschleppungen in den Osten

Mein Fazit nach vier Tagen Białystok: ein Besuch lohnt sich sehr! Auf keinen Fall verpassen, wenn man den weiten Weg in den Osten Polens gemacht hat. Und am besten noch verbinden mit einem Besuch im etwa eine Stunde südöstlich gelegenen Nationalpark Białowieża. Einer der letzten Urwälder Europas, den sich Polen mit Belarus teilt. Der Europäische Gerichtshof stoppte glücklicherweise die Abholzungspläne der polnischen Regierung und so tummeln sich weiter Wisente, Elche und wanderfreudige Touristen im Park. Zu denen geselle ich mich für zwei Tage, spaziere staunend durch die grandiose Waldeinsamkeit und betrachte die europäischen Bisons lieber am Rande eines schützenden Zauns.

Białowieża Nationalpark
Im Białowieża Nationalpark

Jetzt aber langsam auf gen Westen. Eine freundliche Übernachtung am Rande von Warschau, ohne die Stadt zu besuchen – irgendwas muss ich mir doch aufsparen für die nächste Polenreise – und dann Richtung Oberschlesien. Kurz vor Kattowitz liegt Tschenstochau und ich wollte eigentlich nur einen kleine Kaffeestopp mit einem kurzem Besuch des Paulinerklosters verbinden. Dann gerate ich ganz ungeplant in die Abschlussveranstaltung der „großen Nationalwallfahrt von Warschau zum Gnadenbild der schwarzen Madonna“. Ich bin weder katholisch noch gläubig, aber dieser Nachmittag inmitten polnischer Religiosität ist wirklich ein Erlebnis. Ein nicht enden wollender Zug von Gruppen zieht von der Stadt hinauf zum Jasna Góra, dem Hügel, auf dem das Kloster steht. Lachend, singend, tanzend laufen sie zur großen Rasenfläche vor dem Kloster, ein riesiger Freiluftgottesdienst und eine Stimmung wie bei einem gigantischen Familienausflug. Ich schließe mich den Massen an und spaziere durch das Kloster, so viele Menschen… Und dann erhasche ich tatsächlich einen Blick auf die schwarze Madonna, komme mir fast wie eine Betrügerin vor, weil ich wohl die einzige hier bin, die so gar nichts mit dem Bild verbindet. Trotzdem, ein unerwartet tolles Erlebnis. Mittlerweile ist es fast schon Abend, jetzt aber weiter nach Kattowitz.

Tschenstochau
Tschenstochau: Paulinerkloster, die Schwarze Madonna und beschwingte Pilger

Oberschlesien ist nicht unbedingt eine klassische Urlaubsgegend, viel Industrie, viel Bergbau, viele zerstörte Städte, viele Plattenbausiedlungen. Das gilt besonders für Katowice, wie die schlesische Hauptstadt heute heißt. Wenig ist von der historischen Altstadt erhalten, riesige Wohnblocks säumen die Straßen. Aber: Kattowitz kommt! Man setzt auf Kultur. Das neue Konzerthaus ist hochgelobt, die vielen Ausstellungen im Schlesischen Museum in einem früheren Bergwerk kann man an einem Tag gar nicht ausreichend erfassen. Nicht verpassen sollte man  die Dauerausstellung „Das Licht der geteilten Geschichte“. Hier kann man durch die Gassen des untergegangenen Kattowitz bummeln, sich mal wie in Deutschland, Österreich, Tschechien oder Polen fühlen und alles über die multikulturelle Geschichte Oberschlesiens erfahren. Nicht vergessen, danach den Aufzug auf einen der alten Fördertürme zu nehmen, der Blick von oben über die Stadt ist klasse!

Kattowitz
Kattowitz

Obwohl die sozialistischen Bausünden vieles dominieren, findet man abseits der breiten Straßen doch auch einige Schätze: gut und großflächig erhaltene Zwischenkriegsarchitektur, den Schlesischen Park, der größte Stadtpark Europas, und als besonderes Highlight die historische Arbeitersiedlung Nikiszowiec. Die zwischen 1908 und 1924 entstandene Backsteinsiedlung ist vollständig erhalten und entwickelt sich zum In-Viertel. An den Häusern gibt es so viele Details zu entdecken und wenn man wissen möchte, wie es sich früher hinter diesen Mauern lebte, sollte man das tolle Museum im ehemaligen Waschhaus in der Rymarska 4 besuchen. Übertroffen wird alles nur noch von den himmlischen Jagodzianki, Hefeteigtaschen mit Blaubeeren, im Cafe Byfyi.

Nikiszowiec

Mein Fazit für Kattowitz: keine klassische Schönheit, aber eine lohnenswerte und spannende Stadt auf dem Weg zur Kulturmetropole, in der es so viel zu entdecken gibt!

Weiter geht es durch Oberschlesien, mein nächstes Ziel ist Opole, das frühere Oppeln. Ein freundliches Städtchen mit einem schönen Marktplatz, gemütlichen Cafés in den Altstadtgassen und einer hübschen Silhouette am Mühlgraben (beworben als Oppelner Venedig – och ja 🙂 ). Ganz toll fand ich wieder mal ein Museum. Das „Museum des Oppelner Schlesiens“ ist über mehrere Gebäude unterhalb der Universität verteilt. Sehr sehenswert ist das Haus in der ul. Wojciecha 9. In dem mehrstöckigen Haus warten mehrere perfekt ausgestattete Wohnungen aus unterschiedlichen Epochen auf Zeitreisebegeisterte. Ein Aufruf in Zeitung und Radio führte dazu, dass die Oppelner dem Museum so viele Alltagsgegenstände spendeten, dass locker noch ein weiteres Haus damit ausgestattet werden könnte. In den mit viel Liebe zum Detail gestalteten Räumen kann man durch die Jahrzehnte hinauf bis zum Wäscheboden steigen und dabei von 1890 bis 1965 reisen. Ich fand’s toll!

 

Ein veritables Unwetter, das arg an den Bäumen vor meinem Hotel zerrt, ihre Äste über die Straße verstreut und viel viel Regen bringt, beendet das angenehme Sommerwetter der letzten Wochen. Von meinem nächsten Ziel

Liegnitz im Dauerregen

Liegnitz sehe ich daher fast nur mein Hotelzimmer. Aber das macht richtig Spaß, ein äußerst gemütlicher Raum, ein perfektes Frühstücksbuffet, ein wohliger Whirlpool nach einer Runde auf dem Laufband machen auch mal für mehr als einen Regentag gute Laune. Das schlechte Wetter will so gar nicht aufhören, aber das ist wahrscheinlich Teil einer freundlichen Inszenierung, um meinen Abschiedsschmerz zu mildern. Ein Stündchen bis zur deutschen Grenze und das war’s mit meiner großen Polen-Litauen-Reise. Ein Nachmittag im herrlichen Meißen, ein kurzer Abstecher nach Treuen im Vogtland – Sachsen enttäuscht auch hier wieder nicht. Und dann stehe ich auf dem Bahnhof von Ansbach und warte auf Eric für das erste gemeinsame Wochenende seit wirklich langer Zeit. In Franken begann meine Reise, hier endet sie auch wieder.

Dreieinhalb Monate und 8000 Kilometer, durch Ostdeutschland, Polen und Litauen. Krieg und Corona waren kein Hindernis, im Gegenteil. Die selbstbewusste Art insbesondere der Litauer, mit der neuen alten Bedrohung umzugehen und die europäische Freiheit und Sicherheit über den Erhalt des eigenen Lebensstandards zu stellen, war sehr lehrreich für mich. Der Panikmache und dem steten Ruf nach staatlicher Kompensation in Deutschland begegne ich seither noch distanzierter. Auch die Einstellung zum im Westen so beliebten „Ossi-Bashing“ ändert sich, wenn man einfach mal hinfährt. 25% AfD im Osten bedeutet eben auch, dass die große Mehrheit den Rechtspopulisten keine Stimme gibt.

Meinen Plan, die Ostsee zu umrunden, durch das Baltikum nach Skandinavien, habe ich in Litauen aufgegeben. So viele Eindrücke, so viele Erlebnisse, fünf weitere Länder hätten mein Kapazitätskonto eindeutig überzogen. Denn so wie sie war, war die Reise perfekt. Der Traum vom einfach-ins-Auto-setzen-und-losfahren: erfüllt! Einfach da bleiben, wo es schön ist: gemacht! Meinen Ahnen auf die Spur kommen: ja! Jetzt muss ich erst mal alles sacken lassen. Und mich bereit machen für die nächsten Abenteuer. Denn bald geht es weiter 🙂

Litauen intensiv

In Klaipėda muss ich mich entscheiden. Wie soll meine Reise weitergehen? Die Küste hoch Richtung Lettland und meinem ursprünglichen Plan folgend durchs Baltikum nach Skandinavien? Aufs Schiff springen und nach Schweden oder gar nach Deutschland? Oder weiter durch Litauen? Ich bin jetzt fast drei Monate unterwegs. Spätestens im Oktober möchte ich wieder zuhause sein, um mich zu rüsten für das, was dann kommen soll: eine Globonauten-Reunion und das erste Mal seit Corona wieder Europa verlassen.

Drei Länder und 5000 Kilometer liegen bis jetzt hinter mir. Entdeckungen und Geschichten, die ich noch gar nicht aufarbeiten konnte. Die vielen Denkanstöße für meine Familienforschung in Pommern, ordentlich Material aus dem Kirchenarchiv in Magdeburg, hunderte von Photos. Und langsam schwirrt mir der Kopf. Jetzt weiter in noch fünf Länder? Abschied vom schönen Litauen nehmen, das ich noch gar nicht richtig kennengelernt habe? Das sowieso alle Skandinavien-Klischees erfüllt? Und dazu auch noch recht günstig ist?

Den endgültigen Ausschlag geben dann eine Berlinerin und ihr Freund, die ich in Rusnė treffe: sie waren in Schweden unterwegs und haben ihre Reise dort abgebrochen. Alles Schöne ausgebucht. Und was noch übrig war an Zimmern, war unter 100 Euro nicht zu kriegen. Damit ist meine Entscheidung gefallen. Lieber noch Zeit in Litauen verbringen und dann langsam zurück. Und vielleicht auch mal ins ganz normale litauische Leben eintauchen.

Dafür steuere ich als erstes Šiauliai an. Die Stadt mit etwas über 100.000 Einwohnern taucht in den Reiseführern maximal als Durchgangsstation für den nördlich gelegenen Berg der Kreuze auf. Aber Šiauliai hat genau das zu bieten, was ich suche: freundlichen Alltag.

Da ist erst mal die Fußgängerzone, auf der es sich sehr nett flanieren lässt. Und die sich rühmt, die erste Fußgängerzone in der ganzen Sowjetunion gewesen zu sein. Passt mal wieder zu meinem Eindruck von Litauen: immer schön dem Sozialismus etwas Menschlichkeit entgegensetzen, kreativ und leicht störrisch. Šiauliai war einst eine überwiegend jüdische Stadt und ein Zentrum der Lederindustrie mit Weltruf. Die Lederfabrik von Chaim Frenkel dominierte die Stadt. Heute bröckeln die Fabrikgebäude vor sich hin. Die Art-Noveau-Villa der Familie Frenkel inmitten eines Parks ist aber bestens restauriert und lädt zu einer Zeitreise ein. Neben beeindruckenden Jugendstil-Decken kann man Stummfilm-Atmosphäre in einem kleinen Kinosaal genießen. Der Park hinter der Villa ist ein freundlicher Ort, um einen sonnigen Nachmittag zu verbringen.

Die Villa Frenkel in Šiauliai

Besonders glücklich kann sich Šiauliai wegen seines Parks rund um den Talkša-See schätzen. Ein freundliches Freizeitparadies quasi fast in der Innenstadt. Am See geht es ultraentspannt zu, Familien verbringen den Feierabend hier, kein Gegröle, keine dröhnende Musik, Radfahrer und Skater umkurven die Fußgänger umsichtig. Wer überschüssige Energie loswerden muss, traut sich an die Wakeboarding-Anlage, an der man sich über den See ziehen lassen kann. Am Rande des Parks werden zwei Heißluftballons aufgeblasen und heben in den tiefblauen Himmel ab – die machen es sich wirklich schön hier. Vorbei am „Goldenen Jungen“,  dem glänzenden Bogenschützen auf dem Obelisken am Sonnenuhrplatz, schlendere ich abends zurück zu meiner Wohnung und freue mich über den kleinen Einblick ins entspannte litauische Alltagsleben.

Sommertag in Šiauliai

Die meisten Touristen passieren Šiauliai nur auf dem Weg zu einer der wichtigsten Attraktionen des Landes: dem Berg der Kreuze. DER Wallfahrtsort in Litauen. Und DAS Symbol des Widerstandes der Litauer gegen die kommunistische Herrschaft der Sowjets. Schon seit dem 19. Jahrhundert wurden auf dem Hügel – Berg ist etwas hochgegriffen – Kreuze für Opfer der Auseinandersetzungen mit Russland errichtet. Die Kommunistische Partei versuchte mehrfach, den Ort zu zerstören. Aber kaum waren die Kreuze verbrannt, wurden neue errichtet. Mit der Unabhängigkeit und dem Papstbesuch 1991 traten dann die religiösen Motive in den Vordergrund. Heute sollen es über 50.000 Kreuze aus der ganzen Welt sein. Hinter jeder Aufschrift eine ganz eigene Geschichte. Der kleine Tim, der mit vier Jahren starb. Die Opfer des Krieges in der Ukraine. Das Ehepaar Knoop aus dem Memelland. Aber auch Danksagungen verschiedener europäischer Fliegerstaffeln, die auf dem nahegelegenen Militärflughafen Manöver absolviert haben, finden sich. Später donnern dann zwei Tiefflieger über den Ort – diesmal mit akutem Hintergrund. Vier polnische und vier dänische Kampfjets machen deutlich, dass dies hier Europa ist und bleiben muss.

Der Berg der Kreuze

Ich mache mich auf Richtung Kėdainiai. In einer der ältesten Städte des Landes legen Touristen eher nur einen kurzen Stopp ein. Dabei ist sie voller Geschichte. Kėdainiai war einst ein Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit, eine berühmte Tora- und Talmudschule und mehrere Synagogen prägten den Ort. Die Altstadt ist fast komplett erhalten oder wenigstens wiederaufgebaut, darunter auch zwei der Synagogen, die in alter Pracht an einem der vielen Plätze der Altstadt Seite an Seite stehen. Strahlender Sonnenschein und leichter Regen wechseln sich ab. Der Spaziergang durch die Altstadt und am Ufer des Nevėžis muss wetterbedingt etwas verkürzt werden. Aber das hier ist Litauen und da findet sich immer ein hübsches Café, in dem man das ein oder andere Stündchen verbringen kann. In Kėdainiai heißt die Quelle leckeren Kaffees Kavamanija und war mir sogar zwei Besuche wert.

Kėdainiai

Und dann geht es ganz schnell. Keine zwei Stunden brauche ich bis zur polnischen Grenze und zack bin ich raus aus Litauen. So abrupt? Und ohne noch mal einen richtigen Halt gemacht, noch mal Auf Wiedersehen gesagt zu haben? Ich bekomme doch tatsächlich feuchte Augen. Das war’s jetzt mit Litauen. Was für ein Land!

Meine Tour durch Litauen 2022

Obwohl kleiner als Bayern hat ein knapper Monat nicht gereicht, alles zu sehen. Dabei habe ich die Hauptstadt Vilnius genauso ausgelassen wie die Kurische Nehrung und den Nationalpark Aukštaitija im Nordosten. Aber ich bin froh um das gemächliche Tempo, den Luxus, auch mal einen ganzen Nachmittag im Café oder auf einer sonnigen Parkbank zu verbringen und mir dabei ein paar Gedanken über das Land und meine Eindrücke machen zu können.

Vor vier Jahren war ich das erste Mal hier, damals wirkte einiges noch im Aufbau, die sozialistische Zeit schien an vielen Stellen durchzublitzen. Doch Litauen schreitet mit großen Schritten voran und wirkt heute westlicher als Polen. Skandinavisch eigentlich. Nein, europäisch! Mit Englisch kommt man hier sehr gut durch, ganz anders als zum Beispiel in Hinterpommern. Die jungen Menschen sprechen die Sprache meist hervorragend, aber auch mit dem pilzsuchenden alten Mann im Nationalpark konnte ich mich sehr gut verständigen. Auf eine sympathische Art störrisch scheinen sie mir, die Litauer. Sie treten der Welt selbstbewusst gegenüber und scheuen weder den Konflikt mit Russland noch China.

Crowdfunding auf litauisch

Dem Transitzug nach Kaliningrad machen sie es nicht leicht, sei es durch die strenge Auslegung von EU-Vorschriften oder die Anbringung von Kriegsbildern auf der Strecke zur Aufklärung der russischen Reisenden. Die Crowdfunding Aktion Blue/Yellow zur Unterstützung der ukrainischen Armee hat fast 35 Millionen Euro gesammelt – beeindruckend bei 2,8 Millionen Einwohnern. In Taiwan eröffnen sie eine Handelsvertretung. Vorausschauend haben sie seit Jahren darauf hingearbeitet, sich und vielleicht sogar das restliche Baltikum von russischem Gas unabhängig zu machen. Natürlich wissen sie die EU und NATO hinter sich, aber klein und frech, das unterstützen wir doch gerne! Kein Wunder, dass die singende Revolution ihren Ausgang in Litauen nahm und sich das Land als erste Sowjetrepublik unabhängig erklärte.

Synagogen, jüdischer Friedhof und Shoah-Gedenkstätte in Kėdainiai

Was mir noch auffiel ist der Umgang Litauens mit seiner jüdischen Vergangenheit. Nur etwa 10.000 der 220.000 Juden, die beim Einmarsch der Nazis in Litauen lebten, entkamen der Shoah. Gemordet wurde hier nicht in Konzentrationslagern, sondern vorwiegend in Wäldern oder Ghettos. Und die Deutschen konnten sich dabei auf litauische Helferinnen und Helfer verlassen. Anders als in Polen scheint man zu dieser Geschichte zu stehen – an jeder Gedenkstätte, die ich besucht habe, ist von den litauischen Kollaborateuren die Rede. Wiederaufgebaute Synagogen und Gedenkstätten zeugen von einer Auseinandersetzung.

Auch dem deutschen Erbe im Memelland steht man aufgeschlossen und als Teil der Geschichte des Landes gegenüber. Einig ist man sich aber in der Bewertung der jüngeren Geschichte des Landes – niemand weint der sowjetischen Vergangenheit eine Träne nach. So etwas wie Ostalgie hat hier keinen Platz. Orte wie der Grūtas-Park in der Nähe von Druskininkai, wo sowjetische Statuen ihren letzten diktatorischen Geist aushauchen, sind keine Stätten der Verklärung, sondern eher wie ein kleines Gruselkabinett zur Erinnerung an das, was man glücklicherweise überwunden hat.

Sowjet-Grusel im Grūtas-Park

Und so im Alltag? Vielleicht das Wichtigste: ein gutes Land zum Alleinreisen, besonders als Frau. Ich habe mich immer sicher gefühlt und bin nicht ein Mal in eine unangenehme Situation geraten.

Schöne Unterkünfte findet man hier leicht, von kleinen Holzhäuschen und hübschen Landpensionen bis hin zu stylischen Stadtwohnungen. Gut essen kann man an jeder Straßenecke. Sehr lecker und günstig satt wird man in den „Kepykėlė“, den Bäckereien. Prezo ist eine Bäckereikette, in der ich manch leckere Stunde verbracht habe. Für unter einem Euro bekommt man lecker gefüllte Blätterteigtaschen – süß oder deftig – mit günstigem Kaffee. Bier ist köstlich – besonders fein fand ich das „Volfas-Engelman“. Sehr gut sind auch die alkoholfreien Biere und Kwas, dieses wunderbare Gebräu aus vergorenem Brot.

Dass das Baltikum in Sachen Digitalisierung ganz oben mitspielt, hat sich ja herumgesprochen. Zumindest die Infrastruktur dafür stimmt in Litauen: im hintersten Wald, am einsamsten Ostseeufer – überall perfekter Empfang. Freies, superschnelles und stundenlanges WLAN in jedem Café, in vielen Städten und in jeder Unterkunft.

Ich erwähnte es schon, sprachlich gibt es kaum Probleme. Mit englisch und sogar deutsch kommt man gut durch. Ich habe es nicht geschafft, etwas litauisch aufzuschnappen – obwohl eine indogermanische Sprache, ist sie ganz weit weg von allem was mir vertraut ist. Als eine der ältesten Sprachen der Welt ist sie am ehesten mit Sanskrit verwandt. Auf die Erhaltung des Litauischen achtet man genau – Fremdwörter finden nur selten Einzug, Namen werden gnadenlos litauisiert. Schon mal von Olafas Šolcas gehört? Unser Bundeskanzler…. Nur vor Gandhi haben sie Respekt, er hat seinen Namen behalten dürfen.

Was macht Indiens Nationalheld ausgerechnet auf der kleinen Insel Rusnė im Memeldelta? Sein Freund Hermann Kallenbach wurde nicht weit von hier geboren. Der jüdische Architekt lernte Gandhi in Südafrika kennen und beide verband eine lebenslange, ganz besondere Freundschaft. Die faszinierende Geschichte der „Soulmates“ hier

 

Und die Schattenseiten? Was nervt in Litauen?
So zurückhaltend und nett sie sind – die Litauer sind furchtbare Autofahrer. Auf waghalsige Überholmanöver muss man sich einstellen – stoppen können sie nur die relativ häufigen Radarfallen. Nicht alle Straßen sind geteert, aber das stört die eiligen Litauer nicht im geringsten, staube was da wolle. Aber – man gewöhnt sich und auf den Autobahnen geht es dank Tempolimit, an das sich erstaunlich viele halten, dann eher entspannt zu.

Land des Regens, so wird Litauen manchmal bezeichnet. Und ja, auch ich habe den ein oder anderen Tag in einer gemütlichen Unterkunft verbracht, weil es draußen schüttete. Aber: nichts geht über einen Spaziergang in einem frisch gewaschenen litauischen Wald. Und während Deutschland im klimagewandelten Hitzesommer ächzte, genoss ich angenehme Temperaturen und regnerische, aber gemütliche Café-Nachmittage.

Und deswegen mein Fazit: Ein tolles Land, ein Land zum Wohlfühlen, zum Entdecken, ein Land zum unbedingt Wiederkommen!

Eine Reise durchs Memelland

Südwestlich von Minsk entspringt die Memel. Sie windet sich fast zu gleichen Teilen ihrer Gesamtlänge durch Belarus und Litauen, wird bei Kaliningrad kurzzeitig zum Grenzfluss zu Russland und mündet dann nach fast tausend Kilometern im Kurischen Haff in die Ostsee. Eine Vorstellung von dem Land, dem der Fluss seinen Namen gibt, habe ich nicht. Das Memelland, war das nicht mal deutsch? Oh je, ich habe keine Ahnung.

In Druskininkai stoße ich das erste Mal auf die Memel. Sie fließt quasi hinter meinem Haus vorbei und lange wandere ich an ihrem Ufer durch den feuchten Nadelwald. Dabei kommt mir die Idee: ich möchte der Memel folgen, auf ihrer ganzen litauischen Länge, von Druskininkai bis ans Kurische Haff. Und herausfinden was das war, mit diesem Memelland.

Die erste Etappe bis Kaunas hätte ich – Memel hin, Memel her – in jedem Fall absolviert. Nicht nur wegen meiner guten Erfahrungen 2018. Die zweitgrößte Stadt Litauens ist 2022 Europäische Kulturhauptstadt und damit quasi Pflichtprogramm. Kaunas ist wieder so großartig, dafür braucht es einen eigenen Bericht. Aber die Memel gerät trotzdem nicht aus meinem Blick. Besonders an der Spitze der Altstadt, wo sich Neris und Memel vereinen – ein romantischer Ort, vor allem für spektakuläre Sonnenuntergänge.

Der Zusammenfluss von Memel und Nevis in Kaunas
Die gotische Kirche in Zapyškis

Nach einer glücklichen Woche in Kaunas mache ich mich auf den Weg und folge dem Fluss weiter. Zapyškis heißt meiner erster Stopp. Einsam und hell leuchtend steht eine gotische Kirche aus dem 16. Jahrhundert am Ufer. Zerstörungen und Überflutungen haben ihr über die Jahrhunderte nichts anhaben können, deswegen strahlt sie mit dem blauen Himmel um die Wette.

Der Reiseführer empfiehlt als nächstes Ziel Vilkja, etwa 15 Kilometer flussabwärts. Aber da muss ich lernen, dass es nicht viele Brücken gibt über die Memel. Die nächste eigentlich erst wieder da, wo ich übernachten möchte, rund 50 Kilometer entfernt von hier. Und die schönen Orte unterwegs, die liegen auf der anderen Flussseite. Die Lösung könnte eine Fähre sein, die in Vilkja die Memel quert. Ich schaue mir Bilder im Internet an – nein, so viel Abenteuer brauche ich nicht. Da fahre ich lieber zwanzig Minuten nach Kaunas zurück und überquere den Fluss dort auf einer komfortablen Brücke. Als ich die Fähre später live sehe, bin ich sehr zufrieden mit meiner Entscheidung – die Litauer mögen sich ja sogar mit Wohnmobilen auf die Klapperkiste trauen, ich nicht…. 

Die Strecke nördlich der Memel ist den Umweg jedenfalls wert gewesen – sehr hübsch thronen die Orte über dem Fluss, Backsteinkirchen und Herrenhäuser in bester Aussichtslage. Das Schlösschen auf dem Hügel in Raudonė wird beschrieben als – litauisiert wie alle Namen hier – das „lietuvskasis Hogvartas“, das litauische Hogwarts. Hier sei nämlich auch eine Schule untergebracht. Zwar deuten sie an, dass das erst der Fall war, nachdem die historische Innenausstattung entfernt wurde, aber ich mag’s mir trotzdem ansehen. Für einen Euro fünfzig kann man das Schlösschen besichtigen und den Turm über eine sehr schiefe Wendeltreppe besteigen. Dafür hat man einen tollen Blick über die Memel. Und man kann Klassenzimmer aus den 50ern mit hunderten von Hirschgeweihen erleben. Das vermittelt zwar keine Harry-Potter-Atmosphäre, ist aber eine sehr skurrile Erfahrung.

Schloss Raudonė

Mein Ziel für die nächsten zwei Nächte ist Kukarske, ein alter Bauernhof mit allerlei Federvieh, dessen Eier ja jemand verspeisen muss. Das soll ich sein, hat meine Wirtin beschlossen, und serviert mir zum Frühstück ein Omelett aus vier Eiern, eine Schüssel Salat, Wurst, Brot, selbstgemachte Marmelade, gebratenen Käse und und… Ihr Mann begnügt sich zum Glück mit touristischer Beratung: ich soll nach Sudargas fahren, acht Kilometer weg und fast schon an der russischen Grenze. Das entpuppt sich als sehr guter Tipp, denn der winzige Ort birgt Geschichten, die einen Tag mehr als ausfüllen. Die Hügel, auf denen im Mittelalter fünf Burgen standen und um die herum und obendrüber man einen sehr schönen Spaziergang an der Memel unternehmen kann. Das Denkmal für JD Salinger, dessen Urgroßvater Joseph Zalinger bereits hier auf Roggenfelder schaute. Eine Kirche, die in Niedersachsen als Notkirche für Vertriebene gebaut und viele Jahre später bis hierher transportiert wurde, um der evangelischen Gemeinde endlich einen Ersatz für die von der Wehrmacht zerstörte Backsteinkirche zu bieten. Von den litauischen Bücherschmugglern, die sich gegen die Anordnung des Zaren, nur noch die kyrillische Schrift zu verwenden, wehrten und unter Einsatz ihres Lebens Schriftstücke in litauischer Sprache über die Grenze brachten. Ganz schön viel passiert im kleinen Sudargas.

Das Denkmal für JD Salinger über der Memel in Sudargas

Aber was ist jetzt mit dem Memelland? Wo beginnt es eigentlich? Bisher habe ich noch keine Spuren deutschen Lebens gefunden. Für einen kleinen Abendspaziergang fahre ich in die Kreisstadt Jubarkas. Mal auf dem Friedhof schauen. Und tatsächlich, ich stoße auf deutsche Gräber. Aber wenige und zeitlich eher willkürlich, mal 1880, mal 1940. Im Park dann ein Schild mit alten Photos: „Östliches Kriegsbild, die Kirche in Jurburg“. Das hört sich doch eher nach Nazieroberung an und so war es auch.

Das Memelland ist der nördlich der Memel gelegene Teil Ostpreußens. Also quasi Nordostpreußen. Und Ostpreußen begann kurz hinter Jubarkas bei Schmalleningken. Ab hier trennt die Memel das frühere Memelland vom Rest Ostpreußens. Heute ist sie der Grenzfluss zwischen dem russischen Kaliningrad und Litauen. Schmalleningken heißt jetzt Smalininkai und hat offensichtlich kein Problem mit seiner deutschen Vergangenheit. Überall im Ort hängen Plakate mit alten Ansichten des vormals deutschen Ortes. Und gegenüber ist Russland. Fast demonstrativ machen die Grenzpfeiler darauf aufmerksam, dass diese Seite aber noch zu Litauen gehört. Bissle nervös bin ich schon, nicht dass ich unbeabsichtigt Putins Zarenreich betrete, aber ein Selfie mit der Grenze muss sein.

Smalininkai

Ab hier beginnen die Eichenalleen, die so typisch für Ostpreußen sind. Die Backsteinkirchen und kleinen Friedhöfe mit schmiedeeisernen Kreuzen. Mit Namen, die fremd und doch vertraut klingen. Vorname wie Urte oder Mikkel, Nachnamen wie Wilkereit. Typisch memelländische Namen.

Es sind kleine Orte hier. Ich verbringe eine Nacht in Pagėgiai, früher mal eine der größten Städte des Memellands. Architektonische Zeugen dieser Zeit finden sich im Ortskern, wieder mal tolle Zwischenkriegsmoderne und ein paar Meter weiter das frühere wilhelminische  „Kaiserliche Postamt“. Kaum zu glauben, dass zwischen der Errichtung der beiden Gebäude keine zwanzig Jahre lagen. Aber Pagėgiai ist trotzdem nicht mehr als eine Kleinstadt, die gerade droht, in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Denn Pagėgiai ist eigentlich Grenzstadt.

Früheres Kaiserliches Postamt und Großhandlung Iwensky in Pagėgiai/Pogegen

Die nächstgrößere Stadt liegt auf der anderen Seite der Memel – das frühere Tilsit,  ja, das vom Käse. Heute heißt die Stadt Sowjetsk und war bis vor kurzem ein geschäftiger Grenzübergang. Über die frühere Königin-Luise-Brücke rollten die Autos vom und ins litauische Panemunė und weiter nach Pagėgiai. Das ist vorbei, vereinzelt sieht man Fußgänger, aber es ist nichts los an der großen Abfertigungsstelle. Ich blicke hinüber auf die Flusspromenade von Tilsit und entgegen prangt mir ein riesiges Z, das an einem der Häuser am Ufer angebracht ist. Irgendwie nimmt Litauen das immer noch ganz schön cool auf.

Tilsits Gruß an die westliche Welt

Jetzt aber ab auf die Insel. Die Kurische Nehrung durfte ich ja schon vor vier Jahren genießen, da war Vorsaison und eine Unterkunft leicht zu finden. Jetzt sind Sommerferien, die Nehrung ist so gut wie ausgebucht und ich weiche ins davor gelegene Memeldelta aus. Eigentlich ja auch der wahre Ort für das Ende meiner Memelreise. Das verschlafene Šilutė hieß bis 1945 Heydekrug und war die zweitgrößte Stadt des Memellandes. Nicht nur die historischen Gebäude spiegeln die Freude der Stadt an ihrer Geschichte wieder. Ganz besonders nett sind die auf der Hauptstraße in den Bürgersteig eingelassenen kleinen Zeitfenster. Mal eine gutbürgerliche Stube, mal ein Postraum, in dem die Angestellten freudig dem Betrachter oben entgegenblicken – ganz reizend.

Deutsche Spuren in Šilutė, früher Heydekrug

Auf der Insel Ruß, heute Rusnė, finde ich ein schönes Apartment bei netten Leuten. Und nach einer Woche werde ich sehr froh sein, diesmal auf die Nehrung verzichtet und mich dem entspannten Leben im Delta hingegeben zu haben. Die Insel ist von Kanälen und Flüssen durchzogen, die bunten Holzhäuser ducken sich hinter den Poldern und immer noch kommt es hier regelmäßig zu Überschwemmungen. Alles geht einen Gang langsamer, wenig Autoverkehr, wenig befestigte Straßen, wenige Touristen und noch weniger Leute, die nicht angeln wollen. Dafür aber tausende von Vögeln. Störche überall, in den Nestern steht der fast schon erwachsene Nachwuchs, die Eltern spazieren auf den Wiesen auf der Suche nach Fröschen. Kormorane üben sich im Formationsflug, wie schwarze Perlenketten am Himmel. Schwalben toben im Wind, Rusnė ist ein Vogelparadies. Die Landschaft ist flach, Wiesen, Sümpfe, Morast, hoher Himmel und weiter Blick. Bunte kurische Holzhäuser, backsteinerne Höfe. Hinter leise quietschenden Eisentoren alte Friedhöfe der deutschen Vergangenheit, in deren Erde man einsinkt, als würden einen die Toten berühren wollen. Jetzt habe ich es wahrscheinlich gefunden, das Memelland.

Deltaleben in Rusnė, früher Ruß
Grabsteine im Memelland

Und wie zur Bestätigung spricht mich Helmut an, auf dem Friedhof von Skirwietell. Erst auf litauisch, ich antworte auf englisch, dann versucht er es mit deutsch. Ein Memelländer hier aus Ruß. 1945, da war er 5, vertrieben nach Vorpommern. Als man dort feststellte, dass die Familie aus dem Gebiet der frisch gegründeten litauischen Sowjetrepublik kam, wurden sie zurückgeschickt. In den 50ern nutzten sie dann die Chance und siedelten wieder nach Deutschland über. Nach der Rente kam er zurück in seine Heimat. Und hier will er für immer bleiben.

Es fängt an zu regnen, heftig. Helmut beschließt, mich in meine Unterkunft zu fahren. Seine Frau spricht fast nur litauisch, sie ist zupackend und fröhlich. Angekommen an meiner Unterkunft, fängt sie an zu lachen. Sie ist um ein paar Ecken verwandt mit meinem Vermieter Saulius und Helmut ging mit der Mutter von Saulius in die Schule. Kleine Welt hier auf Ruß. Er müsste mir unbedingt noch etwas zu lesen geben, über das Memelland, sagt Helmut. Er hat wohl gemerkt, dass ich immer noch etwas staunend vor der Geschichte stehe. Um 7 würde er vorbei kommen und mir eine Broschüre bringen.

Am Abend sind er und seine Frau pünktlich da, sie haben auch gleich eine Flasche Wein mitgebracht. Die Eltern von Saulius kommen dazu, plötzlich stehen auch noch ein Baumkuchen und ein Teller mit frischen Beeren auf dem Tisch im schönen Garten. Helmut bietet mir das Du an und legt dann mal los. So ein klein wenig hatte ich ja schon geahnt, in welche Richtung seine Broschüre gehen könnte. „Julia, dass Du mich nicht für einen rechten Hund hältst.“, beginnt er seine Ausführungen und stößt mit mir an. Dann geht es los, über Chruschtschow und die Krim und Deutschland und die Deutschen und überhaupt. Was ich denn von der Islamisierung Deutschlands halten würde? Welche Islamisierung, frage ich, und verstöre ihn mit meinem afghanischen Schwiegervater. Ja, das mit den Juden, das hätte man anders machen müssen, Hitler hätte ihnen gleich einen eigenen Staat geben sollen und dann gemeinsam gegen den Bolschewismus. Welchen Staat zum Weitergeben hatte Hitler denn? Und warum ein eigener Staat, sie hatten doch eine Heimat, frage ich. And so on…  Nein, lieber Helmut, für einen Hund halte ich Dich sicherlich nicht, aber was denn sonst außer rechts? Eigentlich würde ich das alles gerne unter origineller alter Mann, den das Wandern zwischen den Welten aus dem Tritt gebracht hat, verbuchen. Auch weil wir uns durchaus sympathisch sind, seine Frau umarmt mich lange und herzlich zum Abschied, er lädt mich ein, sie jederzeit zu besuchen. Aber leider ist seine Saat aufgegangen. Ich googele später ein wenig und sehe, dass sein Sohn in Norddeutschland für die AfD kandidiert hat. Und neben der Broschüre über das Memelland steckt die Ausgabe einer noch rechteren Zeitung als befürchtet in dem Umschlag, den er mir überreicht hat. Damit ich auch mal das erfahre, was ARD und ZDF mir verschweigen, hatte er angekündigt. Sie sind einfach so durchschaubar, diese AfD-, Quer- und anderen Rechtsdenker.

Impressione aus Rusnė/Ruß

Aber wie war es denn jetzt mit dem Memelland? Da liegt Helmut’s Broschüre gar nicht weit daneben. Menschen, die deutsch sprachen und sich der deutschen Kultur zugehörig fühlten, lebten schon seit hunderten von Jahren hier. Das Gebiet war Teil des Ordensstaates der Deutschordensritter und des Herzogtums Preußen, aber einfach weit weg vom deutschen Kernland. Erst 1871 kam ganz Preußen und damit auch das Memelland zum Deutschen Reich. Nach dem ersten Weltkrieg war’s damit dann schon wieder vorbei.

Wandgemälde in Šilutė: 1919 französische Regierung

Im Versailler Vertrag wurde das Memelland dem Mandat des Völkerbundes unterstellt und französisch verwaltet. Soweit scheinen sich die Historiker einig zu sein. Unterschiedliche Betrachtungsweisen gibt es dann aber zur Revolte von 1923, als litauische Kräfte das Memelland besetzten und erreichten, dass es autonome Region Litauens wurde. Ein Volksaufstand der litauischen Memelländer sei das gewesen, sagten die Litauer, eine Eroberung durch den litauischen Staat, sagt heute wohl die Mehrheit der Historiker. Aber auch das hatte bald sein Ende, 1939 wurde Litauen vom Deutsche Reich gezwungen, das Memelland wieder an Deutschland zu übergeben. Kein Glück für’s Memelland. So weit im Osten bekam man den Krieg hier früh und heftig zu spüren. Und die Flucht war lang und voller Katastrophen, der Untergang der Wilhelm Gustloff, die Flucht über das Frische Haff, all das traf Ostpreußen. Wer in die sowjetische Besatzungszone geflüchtet war, dem drohte die „zwangsweise Rückführung von Memeldeutschen durch sowjetische Dienststellen“ – wer Glück hatte, kam mittel- und besitzlos im Memelland an, für viele endete die Reise aber in Sibirien. Eine Ausreise nach Deutschland war dann erst ab 1958 möglich.

Die Litauer begreifen die deutsche Vergangenheit des Memellandes recht selbstverständlich als Teil der Geschichte ihres Landes. Die alten Kirchen werden – nach jahrzehntelanger Zweckentfremdung durch die Sowjets – wieder hergerichtet und die Friedhöfe erhalten. Es bestehen herzliche Kontakte zu ehemaligen Memelländern. In Saugos, dem früheren Saugen, zeigt mir die Küsterin stolz das Innere der Kirche. Auf der Empore liegen deutsche Gesangsbücher, die von den ehemaligen Bewohnern geschenkt wurden, als wären sie nur kurz weg. Ich solle doch auch zum nächsten Kulturfest kommen, sagt die Küsterin. Wäre bestimmt toll, aber ich muss leider weiter.

Die Kirche in Saugos, früher Saugen

Zum Schluss komme ich dann in der früheren Hauptstadt des Memellandes an, die damals sinnigerweise Memel hieß. Im heutigen Klaipėda geht gerade das große Sea Festival zu Ende, die Straßen sind voller gutgelaunter Menschen. Hier deutsche Spuren zu finden, ist nicht schwer, allein schon der Simon-Dach-Brunnen mit dem Ännchen von Tharau auf dem Theaterplatz. Aber die Stadt bietet auch die Chance, modernen deutschen Spuren zu folgen. Nicht nur Kaunas, auch Klaipėda hat seine ganz eigene Ausprägung der Zwischenkriegsmoderne und so mache ich mich auf einen Rundgang durch das Memel der Dreißiger Jahre. Backstein und Bauhaus, das scheint hier durchaus zu funktionieren. Herbert Reissmann und Paul Giesing – später Baurat in Tübingen – verantworteten in kurzer Zeit 200 Neubauten, die noch heute beeindruckend sind. Anders als das ziemlich phantasielose technische Rathaus, das Giesing später in Tübingen baute. Einige Jahre bin ich fast täglich daran vorbeigeradelt und fand es jedesmal scheußlich.

Klaipėda – am Fluss Danė, der Simon-Dach-Brunnen, Sporthalle, frühere Sparkasse

Meine Reise entlang der Memel ist jetzt vorbei. Wie gut, dass ich meiner Idee gefolgt bin. Es waren so interessante Erkundungen und Begegnungen. In einem Land, das eindeutig litauisch ist, aber doch immer wieder auf fast geheimnisvolle Weise deutsche Spuren enthüllt. Ich verstehe, dass sich die Menschen hier wohlgefühlt haben, dass sie bis heute Heimweh haben. Dass sie mit der Vertreibung nicht nur das Land, sondern auch ihre vertraute Gemeinschaft, die sich über Jahrhunderte zwischen zwei Kulturen entwickelt hatte, verloren haben. Das optimistisch Stimmende ist, dass Litauen und damit das Memelland heute ein Teil Europas sind. Wer zurückkommen möchte, für ein paar Wochen oder für immer, der kann das tun. Und davon profitieren Menschen wie Helmut, die sich doch so vehement gegen die europäischen Grundideen wehren. Das Memelland jedenfalls liegt heute am besten Ort seit seiner Entstehung: in der Mitte Europas.

Der gefährlichste Ort der Welt

Die Suwalki-Lücke – diese einhundert Kilometer zwischen Belarus und Kaliningrad kannte bis vor ein paar Monaten noch kaum jemand. Jetzt ist die Grenze zwischen Polen und Litauen in aller Munde, kriegsgefährlich sei es hier. Besonders seit Litauen es beim Transitzugverkehr nach Kaliningrad Ernst nimmt mit den Sanktionen. Die EU ist zwar eingeknickt und Litauen hält sich offiziell daran, es schwelt aber weiter.

Dass die idyllische Landschaft als derzeit gefährlichster Ort der Welt bezeichnet wird, höre ich das erste Mal von meiner Wirtin im besonders idyllischen Krasnogruda. Natürlich lese ich Zeitung und informiere mich ganz besonders über den Krieg. Aber der gefährlichste Ort der Welt, da glauben sowohl meine Wirtin als auch ich dann doch ganz fest an die Macht und Abschreckung der Nato. Ihr ganz unpolitisches Problem ist eher, dass die Gäste wegbleiben. Für mich ein Glück, denn die ehemalige Schule, in der ich die zweite Klasse bewohne, ist ein ganz wunderbarer Ort mit ein bisschen Jugendherbergsfeeling. Ein herrlicher Platz, um Stunden in einem der vielen Sofas drinnen im Wohnzimmer oder draußen auf der Terrasse zu versinken. Oder für wunderbare Spaziergänge, vorbei an Wiesen voller Kühen und schönen Seen. Oder für ganz erstaunliche Entdeckungen in der benachbarten Kleinstadt Sejny.

Ich bin in Podlachien. Allein schon die Tatsache, dass die Gegend auch einen litauischen, belarussischen und ukrainischen Namen hat, zeigt, dass das hier Grenzland ist und immer schon war. Mein Handy springt ständig eine Stunde vor und zurück, je nachdem, ob es sich ins polnische oder litauische Netzwerk einwählt. Im kleinen Sejny gibt es ein litauisches Konsulat und auf der Straße sieht man Autos mit dem Länderkennzeichen BY für Belarus.

Warum bin ich hier? Ganz sicher nicht, um Katastrophentourismus zu betreiben. Wäre auch die falsche Gegend, die Landschaft friedlich und idyllisch, die Menschen geprägt vom multikulturellen Erbe. Der Plan, die Ostsee zu umrunden von Deutschland über Polen und das Baltikum bis nach Skandinavien, den habe ich schon eine Weile. Und an dem halte ich so lange fest, wie es sich gut anfühlt. Das hier ist Europa und in Litauen werde ich noch merken, wie wichtig es den Menschen ist, freie Europäerinnen und Europäer zu sein. Und welchen Wert dieses Land und seine Menschen für ein freies Europa haben. Aber davon später mehr. Jedenfalls bin ich zunächst einmal hier, weil es keinen anderen Landweg nach Litauen gibt.

Das eigentlich recht verschlafene Sejny ist eine ganz erstaunliche kleine Stadt. Und das liegt am großen Engagement der Bürgerinnen und Bürger, die die Bedeutung einer multikulturellen Gesellschaft erkannt haben. Besonders sichtbar wird dies an der „Weißen Synagoge“ im Zentrum der Stadt. Sejny hatte eine große jüdische Gemeinde, die von den Nazis ausradiert wurde. Dank umfangreicher Restaurierungsarbeiten sind die Spuren jüdischen Lebens wieder sichtbar. Am beeindruckendsten ist die Wiederbelebung jüdischer Kultur durch ein Orchester mit dem sperrigen Namen „Orkiestra Klezmerska Teatru Sejnenskiego“. Die Ankündigung für ein Konzert in der Weißen Synagoge hängt an der Tür meiner Unterkunft, ich bin neugierig und fahre einfach mal hin. Vor der Synagoge hat sich bereits ein Publikum versammelt, das ich in dieser Kleinstadt nicht vermutet hätte – die würden alle auch gut in den hippen Stuttgarter Westen passen. Die Synagoge ist säkularisiert und dient heute als Kulturzentrum. Das Innere ist schlicht, die Nazis hatten von der Einrichtung nichts übrig gelassen. An den Wänden die Namen der früheren jüdischen Bürgerinnen und Bürger. Pünktlich um acht kommt das Orchester herein – ein paar Jungs in Konfirmandenanzügen, Mädels in Abiballkleidchen, Blasinstrumente unter den Arm geklemmt. Meine Erwartungen sinken. Und dann setzen sie ihre Instrumente an und ein überwältigend wuchtiger Sound bringt die Synagoge zum Beben. Die typischen Klezmer-Harmonien ins hier und jetzt geholt von diesem Orchester. Gänsehauterzeugend, nicht sentimental verklärend, sondern optimistisch und ganz in der Gegenwart, eine fast vernichtete Kultur und ihr zentrales Gebäude nicht nur wiederauferstehen, sondern neu durchs Leben tanzen lassend. Das Konzert ist absolut grandios. Was für ein Abschluss meiner Reise durch den Norden Polens!

In der Weißen Synagoge in Sejny

Denn am nächsten Tag ist es soweit – Suwalki-Lücke, ich komme! Mein erstes Ziel ist der Kurort Druskininkai in Litauen, Ziel in Google Maps eingegeben, anderthalb Stunden, das passt. Den Grenzübergang mit seiner frisch geteerten Schnellstraße hatte ich bei einer Wanderung zuvor bereits aus der Ferne gesehen. Um so verwunderter bin ich dann, als die Straße immer schmaler wird, sich an kleinen Bauernhöfen entlang windet und der Straßenbelag plötzlich nur noch aus Erde und Schlaglöchern besteht. Kleine Abkürzung, Google? Aus dem sandigen Sträßlein wird ein Waldweg. Ich sollte umdrehen. Hier kann doch kein Grenzübergang sein! Mitten im Wald kommen mir Autos entgegen, alle mit litauischen Kennzeichen und da, weiter vorne sehe ich auch ein Auto, das in dieselbe Richtung fährt wie ich. Also gut, ich versuche es weiter. An einer Waldkreuzung dann ein großes Schild: Lietuvos Respublika. Die Familie aus dem Auto vor mir, zwei Radfahrer, alle machen Bilder mit den Grenzpfosten. Hat mich Google wohl mit einer heimlichen Attraktion versorgen wollen. Nun denn, bald biege ich auf eine wieder geteerte Straße ein und sehe die ersten Holzhäuser – ich bin in Litauen. Eigentlich stelle ich mir so Schweden vor, bunte Holzhäuser auf sattgrünen Wiesen, strohblonde Kinder, einsame Seen. Eine kleine Vorahnung erfasst mich: vielleicht braucht es gar nicht die vielen hundert Kilometer rund um die Ostsee und erhebliche Mengen an schwedischen und norwegischen Kronen, um so richtig in Skandinavienlaune zu kommen.

Von der polnischen Waldgrenze sind es nur etwa 30 Minuten bis ins schöne Druskininkai und bald gehört auch mir ein reizendes Holzhäuschen. Wenn auch nur für fünf Tage. Das Haus ist das letzte im Ort, dahinter wartet ein Wald mit riesigen Nadelbäumen und unglaublich milder Luft. Hinter den Bäumen fließt die Memel und hier kann man ewig auf breiten Wanderwegen inmitten schöner Natur laufen. Ich mache erst einen Riesenbogen durch den schönen Wald um das Städtchen und dann mittenrein. Ein hübscher Park, ein großer See mit Strand, ein bisschen Bäderarchitektur, eine knallblaue russische Holzkirche, ein paar Ex-sowjetische Bausünden. Entspannte Menschen, ein sehr gemischtes Publikum und Wohlfühlatmosphäre. Der Ort ist Kurort und vor dem Kurhotel trifft man sich am Brunnen. Zu den Wasserspielen wird ganz Kur-untypisch Queen gespielt, semmelblonde Kinder planschen am Rande des Brunnens mit. Nett hier!

Druskininkai

Und während Deutschland in der sommerlichen Hitze verglüht, sind die Temperaturen hier angenehm und der Regen reichlich, auch mal durchaus einen ganzen Tag lang. Mein Ausflug zur Grenze nach Belarus muss ich auf den übernächsten Tag verschieben, dafür ist die Luft dann frisch gewaschen. Ein Stündchen gemütlich gewandert und schon bin ich in der nächsten Idylle auf der Hitliste der gefährlichsten Orte. Kleine Bauernhäuser, viele Störche, liebliche Natur und gegenüber liegt Belarus.

Die Grenze zu Belarus

Und genauso geht es im 30 Kilometer entfernten Nationalpark Dzūkija weiter. Das Naturidyll wird diesmal garniert mit Seen, Flüsschen und grandioser Einsamkeit im Märchenwald. Und kleinen Dörfern, in denen die Farben der Häuser mit dem tiefblauen Himmel um die Wette strahlen. Ist es die vermutete Gefährlichkeit, die mich hier fast allein sein lässt oder ist das alles einfach nur ein bisher sehr gut vor Touristen verstecktes Geheimnis? Die hervorragende Infrastruktur mit freundlichem Besucherzentrum, schönen Grillplätzen und – natürlich, das ist Litauen – bestem Mobilfunkempfang im hintersten Waldwinkel sprechen gegen letzteres. Nicht zu vergessen der Lavazza-Kaffeeautomat, der nach meiner einsamen Wanderung wie eine kleine Oase im Zauberwald wirkt und als ich verzweifelt feststelle, nicht genügend Kleingeld für seine Dienste zu haben, großzügig auch meine EC-Karte akzeptiert. Nein, diese Gegend will Touristen, die ein wunderschönes Fleckchen in der Mitte Europas entweder nicht mehr oder noch nicht auf der Agenda haben.

Wenn das jetzt also der gefährlichste Teil meiner Reise war, dann bin ich bereit für mehr. In diesem Land fühle ich mich pudelwohl und die Memel hinter meinem Haus hat mich auf eine Idee gebracht. Sveiki Lituva, hallo Litauen, ich komme!

 

Ostpreußische Erkundungen

Es gibt Orte, da reicht schon die bloße Erwähnung des Namens, um überwältigende Bilder im Kopf entstehen zu lassen. Masuren zum Beispiel: klingt das nicht nach tiefblauen Seen, in denen sich die Wolken spiegeln, rauschenden Wäldern bis zum Horizont, einsamen Bauernhöfen, einem Fleckchen Paradies entrückt von der modernen Welt? Und diese Vorstellungen sind richtig, denn all das findet man im realen Masuren. Aber wie es mit den Paradiesen so ist: andere Menschen wollen da auch hin. Es gibt sie, die traumhaften Seen, über denen Kormorane ihre Runden drehen, mit dramatischen Wolkengebilden, die sich auf der Oberfläche des Wassers fortsetzen. Die großen Wälder, in denen man kleine Blütenwunder entdecken kann.

Aber allein ist man mit dieser Pracht nicht – selbst im Nationalpark ist das beständige Brummen der Autos und vor allem Motorräder zu hören. Auch an meiner eigentlich so idyllischen und supergemütlichen Unterkunft rauscht der Verkehr vorbei. Es sind Sommerferien in Polen. Und auch nach Deutschland hat sich herumgesprochen, dass man hier Urlaub machen kann. Aber ein See ist eben nur noch halb so idyllisch, wenn man auf Wohnwagen und Hüpfburgen blickt. Trotzdem – es ist schön hier, gar keine Frage. Vom grandios auf einer Halbinsel im See gelegenen Kloster Wigry aus kann man spektakuläre Blicke auf die sich über dem Wasser zusammenbrauende Gewitterfront genießen, untermalt von gregorianischen Gesängen. Der Wigierski-Nationalpark bietet tolle Seeblicke und sprießende Natur. Aber das märchenhaft abgelegene Masuren, das muss ich wohl noch finden.

Masuren zog einst auch ganz andere Gestalten an – hier war Hitlers Wolfsschanze, hier sammelte sich im Krieg die ganze Riege der Verbrecher. Das Oberkommando des Heeres hatte im Mauerwald sein Hauptquartier und jede Nazigröße, die was auf sich hielt, besetzte irgendwo im Umkreis ihres Führers ein Gutshaus oder baute sich gleich einen eigenen Bunker.

Das Führerhauptquartier Wolfsschanze ist heute eine Touristenattraktion. Zehntausende kommen jedes Jahr, um die Bunkerruinen zu besuchen. Mir war gar nicht klar, dass die gesamte Anlage von den Nazis gesprengt wurde und daher nur noch die Überreste zu besichtigen sind. Das Präsentationskonzept steht in der Kritik. Zu touristisch, zu militaristisch, zu undifferenziert. Ich finde es eigentlich ok. Der Audioguide beschränkt sich weitgehend auf die Fakten, die Präsentation kreist primär um das Stauffenberg-Attentat. Auch in den Trümmern kann man sich noch gut vorstellen, wie hier trotz Mückenplage und Isolation der Führerkult zelebriert und Wahnideen kultiviert wurden. In den überwucherten Trümmerresten fühle ich mich ganz kurz an unsere Erkundung von Angkor Wat in Kambodscha erinnert. Die Bilder eines dauergrinsenden Hermann Göring in weißer clownsähnlicher Uniform mit zeltähnlichen Ausmaßen bringen mich dann aber schnell wieder zurück in die Realität dieses Ortes. Der Raum, in dem Graf Stauffenberg das Attentat auf Hitler versuchte, ist originalgetreu nachgebildet, die Aktentasche mit der Bombe im Fokus – nur ein paar Meter weiter links und die Welt wäre eine andere und wahrscheinlich bessere gewesen.

Wenn eine Präsentation aber gar nicht geht, dann ist es die in Mamerki im Mauerwald. Hier war das Hauptquartier des Oberkommandos der Wehrmacht. Einige Gebäude sind erhalten, man kann einen der großen Bunker auch von innen besichtigen. Das angeschlossene Museum, in dem Nachbildungen des Bernsteinzimmers und eines deutschen U-Boots begangen werden können, mag man ja noch als profan und billig gemacht abtun. Was aber schockiert ist die Lust der Besucher am Militarismus und die Bereitschaft der Museumsmacher, diese voll und ganz zu befriedigen. Im Shop kann man sich mit Tarnkleidung und Plastikwaffen eindecken, Kinder streifen mit Spielzeugwaffen bestückt durch den Wald, an einem Schießstand können sich die Erwachsenen austoben. Ein Foto an der Flak zur Erinnerung an einen gelungenen Urlaubstag – das alles schockiert mich.

Am nächsten Tag fahre ich ein bisschen über Land, mal hier abbiegen, mal dort schauen. Im Dorf Okowizna fällt mir als erstes das riesige Stallgebäude aus Backstein auf. Im Vorbeifahren sehe ich dann weiter hinten ein verlassenes Gutshaus. Jetzt bin ich neugierig geworden, parke ein paar Meter weiter und steige aus. Auf dem Weg zum Gutshaus überholt mich ein Auto und hält an. Ein Ehepaar aus Norddeutschland hat mein Kennzeichen gesehen und möchte wissen, ob ich einen Bezug zu dem Haus habe. Oder zu dem Ort, der früher Numeiten hieß. Die Frau berichtet, dass sie die Gutsbesitzerin, die nach der Flucht in Schleswig-Holstein lebte, kannte. Sie würde schon seit vielen Jahren immer wieder hierher kommen, wie magisch angezogen von dem alten Haus. Ich solle ruhig durch die Lücke im Zaun auf das Grundstück gehen, das würde niemanden kümmern. Und nach Steinort, zum nächsten Gutshaus, müsste ich auch unbedingt fahren. Nach einer sehr interessanten Weile verabschieden wir uns und ich mache mich auf, das Grundstück zu erkunden. Die alte Auffahrt ist überwuchert, die große Treppe bröckelt, durch ein Fenster neben der verrammelten Eingangstür kann man durch die trüben Scheiben eine große Holztreppe erkennen. Die Stallungen weiter vorne sind riesig – drei lange Backsteingebäude, ein großer Platz. Wie mag das Leben hier wohl gewesen sein?

Ich recherchiere im Internet. Und stoße auf ein Buch, „Numeiter Geschichten“. Die Enkelin des Gutsbesitzers hat die kleinen Alltagsbegebenheiten rund um das Gut aufgeschrieben. Wie die Kinder der Gutsbesitzer dort aufwuchsen. Über die vielen guten Geister, die notwendig waren, Haus und Hof in Schuss zu halten. Vom Eiskeller, in dem die im Winter aus dem See geschnittenen Eisblöcke Lebensmittel bis in den August kühl hielten. Über die große Pferdezucht und den Pferdemarkt, eine Attraktion weit über Numeiten hinaus. Am nächsten Tag fahre ich nochmals hin. Ausgestattet mit meinem neuen Wissen sehe ich das Haus und die Scheunenanlagen in einem ganz anderen Licht. Die Magie, von der die Frau gestern sprach, kann ich jetzt viel besser nachvollziehen.

Der Gutsbesitzer Benno Hagen, der die große Landwirtschaft fast im Alleingang gemanagt hatte, starb 1937 durch einen Schlaganfall. Im Krieg war seine Familie primär damit beschäftigt, den Betrieb aufrecht zu erhalten. Aber die große Weltgeschichte ging auch an Numeiten nicht spurlos vorbei. Eine Abteilung des Auswärtigen Amtes wurde hier eingerichtet. Der Chef, Außenminister Ribbentrop, logierte im nur ein paar Kilometer weiter entfernten Steinort, darauf bedacht, nah bei seinem Führer zu sein, aber nicht gewillt, in der feuchten und mückenverseuchten Bunkeranlage zu leben.

Mit Steinort hatte Ribbentrop ohne es zu ahnen ein brisantes Lager gewählt: Der Schlossherr Graf Lehndorff war einer der Stauffenbergschen Mitverschwörer. Der arrogante Außenminister ahnte nicht, was sein Gastgeber im Schilde führte und Graf Lehndorff rückte von seinem Plan nicht ab – auch wenn er ständig Gefahr lief, in seinen eigenen vier Wänden aufzufliegen. Antje Vollmer hat ein eindrucksvolles und sehr empfehlenswertes Buch  über Heinrich und seine Frau Gottliebe von Lehndorff, ihr erzwungenes „Doppelleben“ und das gewaltvolle Ende ihrer Liebe geschrieben. Ob diese Ereignisse der Weltgeschichte auch nach Numeiten schwappten, ist nicht festgehalten. Aber ganz unberührt blieb das Gut von den Ereignissen in Steinort sicherlich nicht.

Ein merkwürdiger Zufall. Hätte das deutsche Ehepaar nicht angehalten, ich hätte mich wahrscheinlich nicht auf das Grundstück rund um das Gutshaus getraut. Und auch nicht im Internet weiterrecherchiert. Wahrscheinlich hätte ich in Steinort noch nicht einmal angehalten, denn das Anwesen wird gerade renoviert und ist eine riesige Baustelle. Jetzt haben die zwei Gutshäuser, deren Geschichte auf so unterschiedliche Art dokumentiert wurde, mein Interesse am früheren Ostpreußen geweckt. Wieder viel Material für den Ahnenblog. Es mag kitschig klingen, aber es stimmt für mich: Ich habe Masuren gesucht und Ostpreußen gefunden.

Durchs Ermland

Südlich von Danzig habe ich Pommern jetzt endgültig hinter mir gelassen. Die großartige Hafenstadt an der Ostsee lasse ich diesmal aus, denn es gibt noch so viel zu sehen. Zum Beispiel Masuren. Wie das klingt, Land der tausend Seen und dichten Wälder. Um hierhin zu kommen, muss ich erst durchs Ermland – hört sich jetzt nicht so nach Schönheit, Idylle und Abenteuer an, oder? Ich werde bald eines Besseren belehrt werden.

Ich steuere Olsztyn, das frühere Allenstein an. Schon auf dem Weg dorthin das erste Highlight – ungeplant und unerwartet. Auf der Autobahn sehe ich ein riesiges Hinweisschild mit einem aufgebockten Schiff. Die Straßen sind hier sonst weniger mitteilsam und eine Pause wäre jetzt sowieso nicht schlecht, also fahre ich ab und folge den Wegweisern. Was in Polen nicht immer Sinn macht, denn ich lande erst mal im Nirgendwo. Also muss Google ran, was mag denn hier wohl sein? Der Oberländische Kanal mit Schiffshebewerk, ganz wärmstens empfohlen. Also gut! In Buczyniec ist außer eben diesem Kanal, ein paar Häusern und einem riesigen blauen Wasserrad erst mal nichts zu sehen. Ich laufe ein Stück am Kanal entlang, überquere ihn über eine kleine Brücke, laufe zurück Richtung Wasserrad und sehe weiter unten ein Maschinenhaus. Ein freundlicher Mann winkt mir zu, ich solle reinkommen. Ich bestaune die riesige Mechanik im Inneren, eindeutig historisch, aber sehr gut in Schuss. Wofür das wohl alles da ist? Wieder draußen fängt das Wasserrad plötzlich an, sich zu drehen. Dicke Metallseile bewegen sich im Wasser. Ich beeile mich, das Ende des Kanals zu erreichen, hinter dem es auf einer Wiese bergab geht. Unten geht der Kanal weiter. Ein Schiff kommt dort angetuckert, fährt in ein Metallgestänge und was jetzt? Das Schiff taucht aus dem Wasser auf, es hat Räder bekommen. Das Metallgestänge ist der obere Teil eines Wagens, der auf Schienen fährt und jetzt bestückt mit Boot und Besatzung die Wiese hinaufgezogen wird. Auf meiner Höhe angekommen, taucht der Wagen im Kanal ab und entlässt seine schwimmende Beute in die Freiheit. Nicht nur, dass alles wie von Geisterhand zu geschehen scheint, dieses technische Wunderwerk ist über 150 Jahre alt: seit 1860 werden Schiffe hier in die Höhe gezogen. Und zwar ausschließlich mit Wasserkraft. Im kleinen Museum kann man alles über die Technik und den Erbauer Georg Steenke lernen. Material für den Ahnenblog 🙂

Beschwingt nähere ich mich Allenstein, der Hauptstadt der Woiwodschaft Ermland-Masuren. Mal wieder ein bisschen Stadt um mich rum, Allenstein hat knapp 170.000 Einwohner und einen hohen Studentenanteil. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es hier nett sein wird. Und das ist es. Mehr als nett. Allenstein ist toll! Die schöne Altstadt, die man durch das Hohe Tor betritt. Der große Platz mit spätgotischem Rathaus und Bibliothek. Die Häuser drumherum in den 50er und 60er Jahren zeitgenössisch restauriert und immer noch mit einem Hauch Restsozialismus versehen. Die trutzige Deutschordensritterburg, die zeitweise von Nikolaus Kopernikus verwaltet wurde. Die schönen Parks, wo man am Ufer der Łyna die heißgelaufenen Füße im klaren Wasser kühlen kann. Die vielen jungen Menschen, die das Stadtleben prägen. Die tollen Cafés, allen voran das House Cafe mit leckersten Torten, bestem WLAN und guter Atmosphäre. Die Spuren des alten Ostpreußen. Und noch vieles mehr, das die Stadt auch für einen viel längeren Aufenthalt spannend macht. Mein Apartment ist leider schon verplant, sonst wäre ich gerne noch länger geblieben.

So ganz will ich vom Ermland noch nicht lassen. Hier waren die Deutschordensritter und hinterließen mächtige Burgen. Die in Allenstein hat mir noch nicht ganz gereicht. Die beeindruckendste Festung im Ermland soll die Frauenburg in Frombork sein, aber dafür müsste ich genau in die entgegengesetzte Richtung fahren, weg von Masuren. 2020 hatten wir einen ganzen Tag in der riesigen Marienburg in Malbork verbracht, eine kleinere Burg reicht mir diesmal auch. Deswegen entscheide ich mich für die Bischofsburg in Lidzbark Warminski, früher Heilsberg, für die ich nur ein Stündchen fahren muss. An die Marienburg reicht sie zwar nicht heran, aber schön restauriert und üppig verziert ist sie ein idealer Stopp auf meiner Fahrt in den Norden.

Mein Ziel ist Bartoszyce, früher Bartenstein. Hier ist die Grenze nach Kaliningrad ganz nah und in den nächsten Tagen werde ich bei einer Fahrt über Land doch tatsächlich von der polnischen Grenzpolizei kontrolliert. Sehr freundlich, aber auch sehr intensiv, eine Viertelstunde stellen sie mir Fragen und prüfen meinen Ausweis, Führerschein und Fahrzeugpapiere. Hätte die gut englisch sprechende Polizistin nicht beständig so nett gelächelt, wäre ich echt etwas nervös geworden.

In Bartenstein ist die Welt aber noch in Ordnung. Ich habe ein tolles Apartment mit allem Drum und Dran für gerade mal 35 Euro die Nacht. Hier spiele ich ein bisschen Zuhause, schmeiße eine Tiefkühlpizza in den Ofen, gucke deutsches Fernsehen und genieße am Abend auf dem Balkon ein Gläschen Weißwein, den mir der freundliche Vermieter als Willkommensgruß überreicht hat. Bartenstein hat eine kleine Altstadt mit einem Marktplatz, der darauf ausgelegt ist, dass sich Menschen hier treffen. Restaurants, Cafés und ganz hinten eine Bühne. Auf der erlebe ich dann den Auftritt eines föhngewellten polnischen Schlagersternchens. Allzu berühmt kann er nicht sein, sonst wären die Sitzreihen voller, aber die Leute haben Spaß und das ist ja die Hauptsache. Wirklich viel zu sehen gibt es im freundlichen Bartenstein nicht, aber drumherum lässt sich einiges entdecken. Zum Beispiel in Górowo Iławeckie, früher Landsberg/Ostpreußen. Die Kreuzerhöhungskirche sieht eigentlich wie eine klassisch ostpreußische Backsteinkirche aus. Heute ist sie aber eine ukrainisch griechisch-katholische Kirche mit modernen, fast schon fröhlichen Ikonen im Inneren. 1947 zwangsumgesiedelte Ukrainer – die hatten es schon damals nicht leicht – nahmen sich der 1335 erbauten, in den 1980er Jahren aber verfallenen Kirche an und transformierten das evangelische Gotteshaus. Mit einem spannenden Ergebnis, wie ich finde.

Und dann traue ich mich noch näher ran, an die Grenze zu Kaliningrad. Nach dem Erlebnis mit der Grenzpolizei bleibe ich aber mit ausreichend Abstand peinlichst genau auf der polnischen Seite. Denn eigentlich geht es mir nicht um die Grenze, sondern um Störche! Nicht, dass nicht in jedem ermländischen Dorf mindestens aus einem Nest hungrige Hälse emporragen. Aber in Żywkowo gibt es mehr Störche als Einwohner. Auf jedem Bauernhausdach, im großen Baum in der Dorfmitte, überall Storchennester. Und fast alle besetzt. Es wird geklappert und der Nachwuchs gefüttert, die Störche scheinen sich hier äußerst wohl zu fühlen. Eine Frau verkauft kleine Storchenandenken und ein Bauer hat einen Aussichtsturm gebaut, den man für einen Euro besteigen und den Störchen dann noch ein bisschen näher sein kann. Am Ortsausgang eine kleine Storchenhilfe: Afryka 10.000 km, steht auf dem Wegweiser. Damit sie sich nicht verfliegen.

Das war’s schon mit dem schönen Ermland. Toll ist es hier. Natürlich mit grandioser Landschaft, die kommt mir mittlerweile fast schon selbstverständlich vor. Keine klassische Touristengegend, aber die wollte ich auch nicht. Dafür so viele Möglichkeiten für Entdeckungen. In jedem Dorf wartet eine hübsche Kirche, ein altes Gutshaus, ein idyllischer Blick oder ein verfallener Friedhof. Und so viel Geschichte, der Deutsche Orden, die alten Pruzzen, eine überwiegend katholische Enklave im evangelischen Ostpreußen. Das Ermland ist in jedem Fall eine Reise wert!

Hinterpommern – Polecam!

Hinterpommern. Das klingt antiquiert, für den ein oder die andere vielleicht sogar revisionistisch. Ich bin aus antiquierten Gründen hierher gereist, ganz sicher nicht aus revisionistischen. Hinterpommern ist das Land, in dem meine Vorfahren über Jahrhunderte gelebt haben. Mit ihrer Geschichte beschäftige ich mich seit vielen Jahren. Da liegt es nahe, auch die Orte, in denen sie lebten, zu besuchen. Zum dritten Mal reise ich hierher, diesmal aber mit viel mehr Zeit und ohne große Pläne. Beste Voraussetzungen, Land und Leute kennenzulernen.

Sich Zeit zu nehmen, das hat ja schon in Pommerns Hauptstadt Stettin gut funktioniert. Und sich von den Ahnen leiten zu lassen, war ein gutes Rezept in Mittelsachsen und im Harzvorland. Also kreise ich zunächst um die Kleinstadt Świdwin, die zu Zeiten meiner Vorfahren Schivelbein hieß. Eine touristische Infrastruktur existiert hier kaum, Unterkunft, Restaurants oder Wanderwege sind nicht leicht zu finden. Auch klassische Attraktionen sind Mangelware. Die Straßen sind holprig und schmal, was aber vor allem die LKW-Fahrer nicht daran hindert, mir mit Höchstgeschwindigkeit entgegenzudonnern. Warum um alles in der Welt sollte man hier also mehr als eine Nacht verbringen?

Wegen der Landschaft. Dieser unglaublichen Weite, den sanft geschwungenen Feldern, rot- und blaugetupft mit Mohn- und Kornblumen. Durchzogen von windgebeugten Alleen und zu jeder Tageszeit in ein anderes stimmungsvolles Licht getaucht. Wegen der Störche, die in luftiger Höhe ihren Nachwuchs füttern. Wegen der kleinen Backsteinkirchen, die in jedem Ort auf eine andere Art bezaubern. Wegen der alten Gutshäuser, mal bröckelnd dem Verfall preisgegeben, mal in altem Glanz erstrahlend. Die hinterpommersche Provinz ist einfach großartig.

Ich habe mir eine Liste gemacht von Orten, an denen meine Vorfahren gelebt haben. Und gelange auf diese Art über holprige Waldwege und staubige Pisten in abgelegenste Dörfchen. Viel mehr als Hundegebell begleitet mich dann nicht, beim Herumwandern und In-einen-Photorausch-verfallen. Die Dörfer sind ein Mix aus alt und neu in unterschiedlichen Erhaltungszuständen. Alte Backsteinhäuser, bei denen ich nicht glauben kann, dass hier wirklich noch jemand wohnt. Frisch renovierte oder neugebaute Einfamilienhäuser in großen, liebevoll gestalteten Gärten. Plattenbauten mit und ohne Farbe. Und eine immer hervorragend in Schuss gehaltene Kirche. Polnisches Landleben, entspannt und unaufgeregt. Bis auf die kläffenden Hunde.

Ich nehme mir Zeit. Ich verbringe Stunden in Cieszyno, ehemals Teschenbusch, wo mein Urgroßvater der Schweinemeister des Gutes war. Mit einer alten handgezeichneten Karte versuche ich, den Ort in meinem Kopf zu rekonstruieren. Am Ende kann ich jedes Haus der Karte zuordnen, da wohnte der Chausseewärter Graunke, hier war die Schule, die Wasserpumpe, da der Hof von Bauer Popp und dort hinten das große Haus des Gutsverwalters Schwandt.

Ich spaziere um den Buchholzsee, dessen Strandbad wahrscheinlich schon für meine Vorfahren die Sommerattraktion war. So unter der Woche bin ich fast alleine hier, ein paar Angler, ansonsten nur der stille See und ich und die Vorstellung, wie mein Vater nach der Schule auf’s Fahrrad sprang und hierher radelte.

Gegen die Dörfer rundum wirkt Świdwin fast schon städtisch. Im Schloss wurde ein sehr hübsches Café eröffnet, das dazu einlädt, sich stundenlang in die stilvollen Sessel zu fläzen. Ansonsten sieht es verpflegungstechnisch eher mau aus. Nach einigem Suchen gerate ich in einen Dönerimbiss und hier wird mein Englisch erstmalig verstanden: der Besitzer kommt aus Bangladesh, wir schwärmen beide kurz von Indien und dem indischen Essen und er fabriziert mir ein Sandwich, das von unserem Gespräch inspiriert zu sein scheint: die Aromen Indiens haben sich in das Sößchen geschlichen. Wer hätte gedacht, dass ich ausgerechnet in der hinterpommerschen Provinz eine bengalische Köstlichkeit serviert bekomme. Ich durchstreife das Städtchen auf der Suche nach Spuren der Zeit, als Świdwin noch Schivelbein hieß. An der Burg, am Bahnhof und an der Mühle fällt mir das nicht allzu schwer. Traurig ist es immer ein wenig, wenn ich durch die Plattenbausiedlung am Schloss laufe. Hier verlief früher die Mittelstraße, in der meine Großeltern wohnten. Die Straße ist komplett verschwunden. Nicht nur die alten Häuser, sondern der gesamte Straßenverlauf existiert nicht mehr. In der früheren Friedrichstraße ist das anders und hier hatte zudem jemand eine grandiose Idee: das alte Straßenbild findet sich als Wandgemälde auf einem der Häuser. Dieses Interesse einer neuen Generation an der deutschen Vergangenheit der Stadt ist schön und irgendwie komme ich mir dadurch willkommen vor.

Świdwin – Schivelbein: Steintor, Marienkirche, Bismarckturm, Johanniterschloss

Doch Hinterpommern ist nicht nur ländliche Idylle, sondern auch das Land am Meer. Die Temperaturen steigen, jetzt muss ich langsam mal wenigstens die Füße in die Ostsee tauchen. Das gelingt auch ganz hervorragend in Rusinowo, früher Rützenhagen, hat aber leider nur kurz Bestand: im ganzen Dorf gibt es kein Wasser. Also keins aus der Leitung. Am Freitag bei Wartungsarbeiten abgestellt. Und weil Samstag ist, wird der Hahn am Wochenende wahrscheinlich nicht mehr aufgedreht. Meine Vermieterin ist entsetzt und schleppt literweise Mineralwasser heran. Ihr Mann kommentiert nur „In this country anything can happen.“. Schade, ich fand es hier echt nett, aber Duschen sollte ich schon mal.

Die sehr kurzfristige Ersatzbuchung entpuppt sich als großer Glücksgriff. Zwar kein Meer in Sicht, dafür aber eines der schönsten Freilichtmuseen, das ich je erlebt habe. Im Ahnenblog habe ich ausführlich davon geschwärmt.

Doch das Meer gebe ich nicht auf. Ein kurzer Ausflug ins immer noch ein wenig mondäne Seebad Ustica, früher Stolpmüde, macht Lust auf einen künftigen längeren Aufenthalt. Aber ich will jetzt die Ostsee in ihrer ganzen einsamen Pracht und da gibt es in Polen eigentlich kaum einen besseren Ort als den Slowinski-Nationalpark. Bei Edyta in Gardna Wielka, früher Groß Garde, duftet mir schon der frisch gebackene Kuchen entgegen. Die Wohnung im Dachgeschoss ist reizend, schade eigentlich, dass Sommer ist, zu gerne hätte ich den gusseisernen Ofen angeworfen und den köstlichen Rhabarberkuchen dort genossen. Der Slowinski-Nationalpark ist so grandios wie ich ihn in Erinnerung hatte. Schon vor drei Jahren waren wir begeistert von den gigantischen Sanddünen und kilometerlangen einsamen Stränden. Der Nationalpark ist groß. Deswegen teste ich diesmal die Gegend um den großen Binnensee Jezioro Gardno und bin mit dem Fahrrad unterwegs – liebevoll gewartet von Edytas Mann kann nichts schiefgehen. Mit dem Nationalpark hat Polen einfach alles richtig gemacht – den Zugang zu den Dünen und zum Meer bekommt man nur, wenn man das Auto mindestens einen Kilometer, meist aber deutlich weiter entfernt, stehen lässt und sich dem Paradies zu Fuß oder mit dem Fahrrad nähert. Keine Hotels, keine Eisbuden, keine Fun-Aktivitäten – die duftenden Nadelwälder, den endlose Strand, das wilde Meer hat man in seiner ganzen Naturschönheit fast für sich alleine.

Schweren Herzens trenne ich mich von diesem kleinen Paradies – verlängern ist nicht, Edyta ist ausgebucht und das kann ich sehr gut verstehen. Mit selbstgekochter Marmelade versüßt sie mir den Abschied und ich steuere das nächste pommersche Naturparadies an: Kaschubien. So ganz richtig Hinterpommern ist das wohl nicht mehr, aber in jedem Fall gehört alles zur Woiwodschaft Westpommern, also möge es zählen. Eine liebliche Landschaft vor den Toren Danzigs, Heimat einer bereits zu deutschen Zeiten slawischen Minderheit, zu der zum Beispiel der ehemalige polnische Ministerpräsident Donald Tusk gehört. Die Ortsschilder sind zweisprachig, sehr stark weichen die Schreibweisen aber nicht ab. In Szumleś Królewski erwartet mich erneut eine reizende Dachwohnung und wieder werde ich hier garantiert nicht verhungern. Selbstgebackenes Zwiebelbrot und frische Eier, am nächsten Tag kommt noch ein Drei-Gang-Menü, das auch für drei Tage hält, mit dazu. Ein wuseliger kleiner Hund kommt mich regelmäßig besuchen, im kleinen Wäldchen lässt es sich vortrefflich in der Hängematte schaukeln und von meiner Terrasse aus kann ich tiefrote Sonnenuntergänge genießen. Ich wandere durch die liebliche Landschaft, die Felder schwingen sich die sanften Hügel hinauf und hinab, freundliche Kühe schauen mir entgegen, ein kleines Wäldchen kühlt die Frühsommersonne kurz ab. Ich habe ein Picknick dabei und kaum bekomme ich Appetit, erscheint hinter einem kleinen Bauernhof eine Bank mit grandiosem Blick über einen See. Wie für mich gebaut. Ich sitze ein paar Minuten, esse das köstliche Zwiebelbrot, da kommt ein alter Mann vorbei. Ich räume meinen Rucksack zur Seite, er gibt mir die Hand und redet auf polnisch auf mich ein. „Sorry, I don’t speak Polish“, sage ich, er redet weiter, ich sage „Ich spreche leider kein Polnisch“, da grinst er und meint „Dann sprechen wir doch Deutsch“. Der See da unten, das ist seiner. 20 Hektar, 80 Hektar hat er insgesamt, Wald und Ackerflächen. Der Hof hinter uns gehört ihm auch, den bewirtschaftet jetzt sein Sohn. Der spräche ebenfalls gut Deutsch, er hätte in Danzig Abitur gemacht und sei dann fünf Jahre hintereinander zur Spargelernte nach Deutschland gefahren. Und er selber, er hätte Deutsch in der Schule gelernt. Ja, der See, alles nicht mehr das, seit die Kormorane die Fische wegfressen. Schießen dürfe er die nicht, Tierschutz. Wir plaudern lange, er tätschelt mir den Arm, seine Frau sei schon lange tot, ich denke, er hätte mich vom Fleck weg geheiratet und ich könnte stolze See-Eigentümerin sein. So verabschiede ich mich dann aber und umrunde seinen See. Vielleicht doch ein Grund zum Heiraten?

Und damit verlasse ich Pommern. Mehr als drei Wochen war ich hier. Von der Großstadt über winzige Dörfer bis hin zu der grandiosen Ostsee und dem idyllischen Kaschubien – irgendwie kann man hier alles haben. Gemütliche Ferienwohnungen, kleine Hexenhäuschen, freundliche blitzsaubere Hotels. Perfekte polnische Hausmannskost, bengalische Döner, Heringsabenteuer, Gänsebrühe – auch kulinarisch muss man nicht darben. Polnische Hotelkritiken enden häufig mit „Polecam“. Google übersetzt das mit „Ich empfehle“. Und genauso ist es mit Hinterpommern: Polecam!

 

Die vernarbte Stadt

Eine Annäherung an Stettin

Kaum liegt Deutschland hinter mir, bin ich auch schon an der Stadtgrenze von Stettin angelangt. Es ist ein sonniger Sonntagnachmittag, viele Radfahrer auf den Wegen rechts und links der Straße, ein Festplatz, auf dem ein Konzert stattfindet, Familien auf dem Weg dorthin. Die Straßen sind gut ausgebaut und breit, der Verkehr läuft entspannt, kein Problem, mich durch die Großstadt zu schlängeln. Die Straße verläuft durch einen Park, auf der großen Grünfläche haben sich die Menschen niedergelassen, Kinder toben herum, am Ende des Parks ein schlossähnliches grünes Gebäude. Ein paar Minuten später biege ich in die Straße ein, in der sich meine Wohnung für die nächste Woche befindet. Eine lange Häuserzeile, in deren Inneren man sich verirren kann. Ich wohne im dritten Stock und aus den Fenstern habe ich einen weiten Blick über die Stadt. Die Lage der Wohnung war als hervorragend angepriesen worden. Wo mag dann das Zentrum sein? 

Blick von der Jerzego Janosika, Stadtteil Śródmieście-Północ, Richtung Hafen

Mein erster Erkundungsspaziergang führt mich in Richtung des grünen Schlosses, das ich vom Auto aus gesehen habe. Aber es ist kein Schloss, ein Schild weist es als Sitz der Stadtverwaltung aus. Richtig so, immer die schönsten Gebäude für die Administration 🙂

Stadtverwaltung am Ende Aleja Papieza Papieża Jana Pawła II.

Der kleine Supermarkt um die Ecke hat geöffnet. Das ist so angenehm in Polen, immer ein Żabka oder ähnliches in der Nähe, in dem man sich zu jeder Zeit mit allem Notwendigen versorgen kann. Ich kehre mit Milch für’s Frühstück, einem Sandwich und einem Bier zurück in meine Wohnung. Wo ich jetzt genau bin in der Stadt, habe ich noch nicht herausgefunden. Aber morgen geht’s los!

Doch auch in den nächsten Tagen werde ich nicht fündig. Die Stadt hat kein Zentrum. Nicht mehr. Eine winzige Altstadt mit ein paar Restaurants. Grandiose Plätze, wie der Plac Grunwaldzki, gesäumt von Bürgerhäusern. Trutzige Prachtbauten rund um die Hakenterrasse am Ufer der Oder. Ein Stadtstrand gegenüber mit Panoramablick. Uralte Backsteinkirchen. Ein Hafenviertel, das sich gerade aufschwingt, cool zu werden. Einkaufszentren. Aber nichts, was einem Stadtkern nahe kommt.

Die Jakobskathedrale in Stettin

Wahrscheinlich ist es der Fluch der boulevardähnlich angelegten Straßen. Der Verkehr scheint die Stadt in ihrer Mitte zu zerschneiden. Und wie in vielen Städten des früheren Sozialismus: Wohnblocks im Herzen der Stadt. Ungewohnt für das westlich geprägte Auge, das an dieser Stelle mit Bürohochhäusern oder Einkaufszentren rechnet. Aber vielleicht ist ja gerade diese Wohnbebauung das Rezept gegen das Aussterben der Innenstädte. 

Wie verloren im tosenden Verkehr ein einsamer Rest Barock, der so gar nicht zur Bebauung drumherum passen will. Das „Berliner Tor“ war einst eines der Stadttore von Stettin. Trotzig behauptet es seinen Platz und schaut auf die massiven roten Backsteinkirchen, die sein Schicksal teilen. Alles wirkt zusammengestückelt. Als hätte ein Kind seine kaputtgegangene Ritterburg mit Legosteinen geflickt. Gotik neben Plattenbau, filigran dekorierte Bürgerhäuser neben grobschlächtigem Beton.

Die Oder trennte immer schon Vor- von Hinterpommern. Das deutsche Stettin war einst die Hauptstadt von ganz Pommern. Heute ist Szczecin die Hauptstadt der Woiwodschaft Westpommern und liegt in Polen. Der „Pommersche Greif“ ist immer noch allgegenwärtig, sei es auf den alten Gebäuden aus deutscher Zeit oder auf modernen Taxis und Straßenbahnen. Auch die historischen blauen Wasserpumpen, die überall in der Stadt zu finden sind, ziert das Wappentier Pommerns.

Die Altstadt von Stettin wurde im Zweiten Weltkrieg zum größten Teil zerstört. Die deutsche Bevölkerung wurde vertrieben, es rückten ihrerseits Vertriebene nach: Menschen aus den östlichen Teilen des damaligen Polen. Gebiete, die der Sowjetunion einverleibt worden waren. Sie kamen ohne zu wissen, ob sie in Stettin eine dauerhafte Heimat finden würden. Zunächst bestand Unklarheit über die Zugehörigkeit der größtenteils westlich der Oder liegenden Stadt. Dazu drängten 30.000 Holocaust-Überlebende nach Stettin, die schnell nur noch eines wollten: weg hier, weiter nach Palästina oder bald Israel. In den Ruinen und unter dem Damoklesschwert der Vorläufigkeit mussten sich die Menschen eine neue Heimat schaffen, eine neue Gemeinschaft. Die Ausstellung im Dialogzentrum Umbrüche beginnt mit einem Panoramabild des zerstörten Stettin, voller verzweifelter Menschen. Auf dem Boden davor der Schriftzug „Genesis“. Der Bezug passt perfekt. Aus Ödnis und Chaos musste ein neuer Lebensraum, eine neue Gesellschaft entstehen.

Ich fremdle anfänglich stark mit der Stadt. Ihre Identität ist nicht leicht zu erkunden. Was mir hilft ist, mich einfach durch die Straßen treiben zu lassen. Alles zu Fuß erkunden, ausgiebig die Fassaden der Häuser betrachten, in den vielen Grünanlagen auf eine Bank setzen und die Menschen beobachten. Anfangs war ich fast ein wenig enttäuscht, nicht näher an der Altstadt zu wohnen. Aber was hätte ich da eigentlich gewollt? Mein Viertel ist eine ganz normale Wohngegend, gegenüber ein gedeckter Markt mit dem Duft von Erdbeeren und üppigen Sträußen Dill. Das Eintauchen in den polnischen Alltag und das viele Laufen sind der beste Weg, diese Stadt zu erkunden.

Die Stimmung ist gelassen, viele junge Menschen. Über 50.000 Studierende hat Stettin, aber die scheinen wirklich fleißig am Studieren zu sein, denn gemütliche Cafés oder ungewöhnliche Restaurants finde ich so gut wie keine. Dafür bekomme ich in einer Metzgerei ein wirklich traumhaftes Bigos, das polnische Nationalgericht aus Kraut, Fleisch und Wurst für gerade mal drei Euro. In einem der vielen ukrainischen Restaurants der Stadt gibt es Wareniki – Teigtaschen – mit einer Füllung aus Wild und Pilzen, obendrauf ein Riesenklecks saurer Sahne. Und mit dem Café Dzien Dobry finde ich dann doch noch einen Ort, an dem man lesend im Sessel versinken kann.

Die wichtigsten offiziellen Sehenswürdigkeiten sind schnell abgeklappert – die schon erwähnte Mini-Altstadt, das Schloss der pommerschen Herzöge, die Hakenterrasse. Natürlich gibt es noch vieles mehr. Folgt man dem sehr praktisch auf dem Bürgersteig rot markierten Weg, kann man kaum etwas verpassen. Wenn möglich, sollte man auch mal reingehen in die Gebäude, zum Beispiel im roten Rathaus, der Post oder der Musikhochschule warten hübsche Überraschungen. 

Hakenterrasse mit Woiwodschaftsgebäude, Rotes Rathaus, Schloss der pommerschen Herzöge, Heumarkt
links: im Postgebäude, rechts oben: im roten Rathaus, rechts unten: Akademia Sztuki w Szczecinie, Aleja Niepodległości 40

Was man auf keinen Fall auslassen sollte, ist das Dialogzentrum Umbrüche – es hilft, die jüngste Geschichte der Stadt zu verstehen. Sie ist zugleich auch eine Geschichte Polens zwischen 1939 und 1989. Die Nazizeit, die Aufstände, Solidarność, der polnische Papst, Kriegsrecht, die Dritte Polnische Republik.

Sehr beeindruckt hat mich ein Besuch in den Bunkeranlagen unter dem Hauptbahnhof, die 5000 Menschen Schutz bieten konnten. Die Anlage befindet sich weitgehend im Originalzustand, die nachgestellten Szenen schaffen eine beklemmende Atmosphäre, zumal ich hier unten fast alleine bin.

Und ein ganz besonderer Ort ist das Lapidarium auf dem Hauptfriedhof. Restaurierte deutsche Grabsteine wurden hier neu platziert. Sicherlich in erster Linie nach ästhetischen Kriterien. Aber manche Grabsteine scheinen freundliche Grüppchen zu bilden. Wie zu einem Kaffeekränzchen vereint stehen sich sechs Grabsteine gegenüber, im Halbkreis angeordnet scheint der Stein von „Vedder“ seinen Untergebenen die Befehle des Tages mitteilen zu wollen. Ein verwunschener Ort.

Hauptfriedhof und Lapidarium Stettin

Sehr entspannt im hier und jetzt geht es am Stadtstrand auf der Oderinsel Wyspa Grodzka zu. Auf 1500 Tonnen feinstem Ostseesand kann man wahlweise im Liegestuhl oder auf dem Strandtuch das wuchtige Panorama der Hakenterrasse gegenüber auf sich wirken lassen. 

Ein sehr schöner Ort, den sonnigen Nachmittag mit einem leckeren Eis auf einer Parkbank zu genießen, ist der Kasprowicza-Park vor dem grünen Haus der Stadtverwaltung, das ich ja schon am ersten Abend fand. Spinatpalast nannte man es früher und seit das Grün das zwischenzeitlich sozialistische Grau wieder vertrieben hat, könnte man diesen Namen ruhig erneut aufleben lassen.

Nach einer Woche bin ich ein bisschen mehr angekommen in der Stadt. Sich hier auf die Spuren der Vergangenheit zu beschränken, bedeutet, sich auf das Verlorene zu konzentrieren. Mit diesem Fokus, in dem wir Ahnenforscher uns gerne mal verlieren, wird die Stadt wahrscheinlich immer verletzt erscheinen. Wie amputiert und mit schlecht sitzenden Prothesen bestückt. Doch Stettin ist geheilt, zwar mit deutlichen Narben, aber aus Stettin ist Szczecin geworden, eine moderne und lebensfrohe polnische Stadt. Vielleicht ist das Stettins Identität und Mission: einen möglichst angenehmen Rahmen für ein ganz normales polnisches Leben zu bilden. Sich dabei behutsam auch der deutschen Geschichte der Stadt zu nähern. Diese zu integrieren, nachdem die menschlichen und städtebaulichen Wunden der vergangenen 60 Jahre langsam vernarben. Stettin eben als polnische Heimat mit vielfältiger Geschichte zu begreifen.

Am Hafen

Ich bin froh, dass ich mir Zeit gelassen habe für die Stadt. Nach ein oder zwei Tagen wäre ich einigermaßen ratlos weitergefahren und wahrscheinlich nicht mehr zurückgekehrt. Stettin erschließt sich erst auf den zweiten Blick, und so ergreift mich sogar etwas Wehmut, als ich über die Oder-Brücke Richtung Osten fahre und Szczecin hinter mir zurücklasse.